© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/13 / 08. November 2013

Wo war jetzt die Mauer?
Mit dem Rad auf dem Berliner Kolonnenweg um die einstige Halbstadt – Die Trassenhunde der Vergangenheit haben sich getrollt
Heino Bosselmann

Wo die Wunde nicht mehr schmerzt, schmerzt die Narbe. Heißt es. Wer geschichtsbewußt den Mauerweg fährt, rechnet damit, wenigstens mit Phantomschmerz. Immerhin radelt man durch die einstige Todeszone, durch einen intensiv tragisch bestimmten Landstrich. Vielfach ist man sogar auf dem Originalbelag des alten Kolonnenweges unterwegs. Hier war die Nahtstelle, besser die spaltende Kluft zwischen den beiden Welten des Kalten Krieges. Wie die geborstene Welt im ganzen, so Berlin im kleinen. Die akute Tragik liegt im Geschehenen selbst, die fortdauernde im Vergessen der Geschichte.

Der schwierige Charme des Mauerweges mag heute darin bestehen, daß man, solange einst nicht direkt betroffen, die alte Tragödie oder wenigstens den dienstgrauen Ernst atmosphärisch kaum mehr spürt. Man erwartet geschichtlich kontaminiertes Gelände, man weiß ja darum, aber man erlebt es nicht mehr. Die Geschichte selbst hat hier die Minen geräumt.

Erfahrbar sind eher natürliche Kontraste. Ist man auf dem Berliner Außenring unterwegs, türmen sich von einer Seite Häuserfronten, während sich zur anderen Brandenburg dehnt, diese Weite, in der Berlin wie ein riesiges Implantat wirkt. An der Grenze zu Potsdam die zauberhafte Havelseenlandschaft, die von Preußens Gartenbaumeistern veredelte Natur, die Parks und Schlösser von Babelsberg und Klein Glienicke, letzteres zwischen 1961 und 1989 brutal zwischen Mauern eingepfercht. In der engen DDR führte deren engste Stelle über ein Brücklein über den Teltowkanal. Heute Wanderwege, Badestellen, Naherholungsgebiete zu jeder Jahreszeit. Von der Glienicker Brücke mit der Fähre über den Jungfernsee zur Sacrower Heilandskirche, die einst in die Grenze eingebaut war. Preußische Märchenwelten, aber zur Zeit der Teilung weniger im Dornröschenschlaf als vom Kalten Krieg schockgefrostet, mittlerweile längst aufgeblüht, Unesco-Weltkulturerbe und endlich wieder richtig – am Platze!

Man ist 160 Kilometer auf einem Rundkurs unterwegs, der einerseits durch die pulsierende Mitte einer angesagten Weltstadt führt, anderseits aber durch den „Eiskeller“, jenen damaligen Appendix West-Berlins, der nur über einen Korridor mit dem Stadtgebiet verbunden war. Über den Wiesen an der Peripherie der Stadt soll die Temperatur in klaren Nächten fünf bis sieben Grad tiefer liegen als im quirligen Zentrum.

Wer den Mauerweg mit dem Rad fährt, der wird mehr oder weniger Fühlung mit der Geschichte aufnehmen wollen. Schon der Name der Route und ihr Logo stehen dafür. Er wird aber kaum enttäuscht sein, wenn er registriert, daß die Vergangenheit ihn nicht anfällt wie ein Trassenhund. Gut zwanzig Jahre, und Natur wie Geschichte haben alles einnivelliert und auf ihre Weise verändert: Die alte Grenzführungsstelle am Schlesischen Busch zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg und Treptow etwa wird für eine Kunstausstellung genutzt. Was an militärischem Beton übrig ist, das wirkt wie Kulisse, wie museale Staffage. Rudimente der Hinterlandmauer im Süden bei Rudow sind eingezäunt, als bedürften sie des distanzgebietenden Denkmalschutzes. Informationstafeln lassen einen immer wieder innehalten. Man liest sie aufmerksam. Ja, ja, man weiß noch, man erinnert sich. Aber man bleibt doch perplex zurück, sich fragend, wie aus dieser einst lebensgefährlichen Hochspannung quasi über Nacht wieder Stadt, Landschaft oder melancholisch anmutende Brache werden konnte. Gerade weil man nicht vergessen will, ist man ständig mit der Orientierung beschäftigt: Wo war jetzt die Mauer? Radle ich noch im Osten, surre ich schon durch den Westen?

Von Kladow nach Hennigsdorf fahrend, dort, wo quasi der alte Westen im Osten liegt, ist die frühere politische Geographie wieder klar. Man wundert sich: Was für ein grünes Ufer da drüben. Das soll West-Berlin gewesen sein? Die Insel mit den Insulanern? Wie geheimnisvoll. So müssen selbst die Grenzer es gesehen haben, unerreichbar fern. Jetzt einfach so da drüben.

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Fotos: Mauerweg: Ein branden-burgisches Idyll; Mauerrest: Schwieriger Charme an der Niederkirchnerstraße; Engelbecken am Mauerweg in Berlin-Mitte: Wieder-gewonnener Stadtraum; Grenzübergang Oberbaum-brücke nach der Öffnung, 11. November 1989: Man weiß darum, aber man erlebt es nicht mehr; Innerstädtischer DDR-Wachturm: Wo war Osten, wo war Westen? Ist schon so lange her!; Checkpoint Charlie: Früher Alliierte, heute Touristenmagnet; Grenzübergang Invalidenstraße: Hier fuhr Udo Lindenberg 1983 zum Konzert in „Erichs Lampen-laden“ über die Sektorengrenze

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