© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Ein Land sieht rot
Chile: Zuerst sah es nach einem Erdrutschsieg der Linkskandidatin Michelle Bachelet aus, kurz vor der Präsidentschaftswahl muß sie jedoch Federn lassen
Johannes Kaiser

Es ist Spätfrühling in Santiago. Die Bäume sind in frisches Grün gekleidet, und manchmal trifft einen sogar das Glück, ungehindert vom üblichen Smog die Anden in ihrer ganzen Pracht bestaunen zu können. In dieser Jahreszeit könnte man Chiles Metropole, die mehr als sechs Millionen Einwohner beherbergt, fast als schön bezeichnen, wären denn nicht die meisten Mauern und Lichtpfosten mit Wahlpropaganda bedeckt. Egal wohin das Auge blickt, starren den wehrlosen Passanten und Autofahrer die Gesichter sich selbst preisender Politikern an.

Für den 17. November sind Präsidenten-, Kongreß- und Regionalratswahlen angesetzt, und das ganze Land bereitet sich auf eine Umwälzung vor, die dessen politische Physiognomie von Grund auf verändern könnte. Neun Kandidaten bewerben sich um das höchste Amt, doch nur drei scheinen Chancen zu haben, dieses Amt auch zu bekleiden. Am besten positioniert ist die ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet, die versucht, mit dem Versprechen einer Bildungsreform, Steuererhöhungen für Besserverdienende und der Verbesserung der Lage der Ureinwohner zu punkten.

Aktuellen Umfragen zufolge wäre sie aber nicht mehr in der Lage, die Wahl im ersten Wahlgang für sich zu entscheiden. Weit abgeschlagen folgen ihr die Regierungskandidatin Evelyn Matthei und Franco Parisi als unabhängiger Zentrist.

Alle drei haben jedoch mit Imageproblemen zu kämpfen, was dazu führt, daß ihre demoskopischen Werte während des Wahlkampfes sich eher verschlechtert haben. Bachelet, die mit 80 Prozent Zustimmung ins Rennen ging, liegt heute zwischen 47 und 35 Prozentpunkten Unterstützung. Die 62jährige Sozialistin wird mit mannigfaltigen Vorwürfen konfrontiert. Darunter Korruptionsfälle im Laufe ihrer Regierungszeit, Führungsschwäche während und unmittelbar nach dem Erd- und Seebeben, das Chile 2010 verwüstete. Nicht zu vergessen ihre Mitgliedschaft bei der terroristischen Organisation „Frente Manuel Rodriguez“, ungeklärte Wahlfinanzierung durch nationale und internationale Großkonzerne und die Aufnahme der KP-Chiles in ihre politische Koalition.

Vor allem aber ihre Aufrufe, einen „historischen Wechsel in Parlament und Regierung herbeizuführen“, stoßen angesichts ihrer vorherigen Regierungstätigkeit auf Skepsis bei den linken Wählern. Die zentristischen Wähler ihrerseits befürchten durch die Einbindung der Kommunisten in einer möglichen Regierung eine Venezolanisierung der Republik. Auch die Vielfalt an alternativen Kandidaturen innerhalb des linken politischen Spektrums könnte dazu beitragen, daß sie sich gezwungen sieht, in einen zweiten Wahlgang zu ziehen.

Die mageren 22 Prozent Unterstützung, die die bisherige Arbeitsminsterin Evelyn Matthei trotz guter Wirtschaftsdaten erfährt, lassen sich mit dem Unmut eines Großteils der Mitte-Rechts-Wähler über die eigene Regierung unter Präsident Sebastian Piñera erklären. Die Prozeßflut gegen ehemalige hohe Militärs, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, die Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften sowie das Versagen der Regierung bei der Bekämpfung der Kriminalität verschreckten den Kern ihrer Anhängerschaft, der nun dazu aufruft, den Wahlen fernzubleiben.

Zünglein an der Waage könnte Franco Parisi werden. Der 46jährige Ökonom, der sich selbst als sozial-liberal bezeichnet, liegt Umfragen zufolge bei 15 Prozent. Doch auch seine Angriffe gegen die politische und wirtschaftliche Elite des Landes verpuffen, vor dem Hintergrund, daß er sich mit Vorwürfen wegen nicht bezahlter Sozialbeiträge der Angestellten seiner Unternehmen auseinanderzusetzen hat.

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