© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Der Star aus dem Internet
Klassische Musik: Die Pianistin Valentina Lisitsa verdankt ihre Weltkarriere dem Youtube-Kanal
Markus Brandstetter

Früher lief das mit den Pianisten-Karrieren so: Zuerst mußte ein Klavierspieler ein paar große Wettbewerbe gewinnen. War das geschafft, dann gab es einen Vertrag über die Aufnahme einer Schallplatte mit richtig schweren, großen Reißern wie Liszts h-Moll-Sonate oder dem „Gaspard de la nuit“ von Ravel. Diese erste CD enthielt fast immer Stücke für Klavier allein, denn so etwas ist billiger als die Aufnahme eines Klavierkonzertes mit Orchester und einem halbwegs prominenten Dirigenten, was Plattenfirmen bei Erstverträgen nur mit ganz großen Talenten machen. Der russische Pianist Jewgeni Kissin war so ein Fall und natürlich die Geigerin Anne-Sophie Mutter; beide wurden von Herbert von Karajan protegiert und zur Deutschen Grammophongesellschaft gebracht, was den Start zweier Weltkarrieren bedeutete.

Was aber tut eine Pianistin, die lange keinen Wettbewerb gewonnen, keinen Sponsor gefunden und keinen Dirigenten von Weltruf im Bekanntenkreis hat, die Mitte Dreißig ist, ein Kind hat und im ländlichen Süden der USA lebt? Ganz einfach: Sie nimmt sich ein Beispiel an amerikanischen Gangster-Rappern, österreichischen Volksmusik-Dudlern und türkischen Aushilfskomikern, die alle die Früchte ihrer mehr oder weniger genialen Muse auf dem Internetportal Youtube präsentieren, und lädt ein Filmchen von sich hoch.

Denn Youtube ist im Endeffekt ja nichts anderes als ein gigantisches Film-archiv im Internet, auf dem der Besucher sich Millionen von Videofilmen kostenlos anschauen, aber eben auch eigene Elaborate hochladen kann. Seit man mit jedem iPhone Filme aufnehmen kann, sind eigene Produktionen kinderleicht. Die Bandbreite von Youtube reicht von guten Fernsehdokumentationen und erstklassigen Konzertmitschnitten über alte Fernsehsendungen bis hin zu Schmuddelkram, pubertären Späßen und völlig bescheuertem Blödsinn. Für Otto Normalverbraucher jedoch stellt Youtube ein riesiges Archiv von Bild- und Tonaufnahmen der letzten hundert Jahre dar: Praktisch jede Opernarie, jeder alte Schlager, jedes historische Fußballspiel, alte Nachrichtensendungen, Fernsehkrimis und Shows, Werbefilmchen – all das und noch viel mehr hat auf Youtube sein ewiges Internetleben gefunden.

Mitten in diesen Hexenkessel aus Geschmacklosigkeiten und Selbstdarstellerei, aus Schrott und Sentimentalität, aus Qualität und manchmal echter Kunst hat sich die ukrainische Pianistin Valentina Lisitsa begeben, um von hier aus eine Weltkarriere zu starten. Dabei hatte Lisitsa noch vor fünf Jahren geglaubt, sie sei künstlerisch am Ende. Heute ist sie die am meisten angeklickte klassische Pianistin im Internet, ihr Youtube-Kanal hat mehr als doppelt so viele Abonnenten wie der von Spiegel TV.

Begonnen hat diese Weltkarriere mit Hindernissen und Umwegen erst einmal ganz traditionell: Die Pianistin wird am 11. Dezember 1973 in Kiew geboren, spielt bereits mit drei Jahren Klavier, tritt mit vier zum ersten Mal öffentlich auf und besucht eine jener Musikschulen, die der Stolz der Sowjetunion waren. Nach ihrem Abschluß am Kiewer Konservatorium wandert sie mit ihrem Mann Alexei Kuznetsoff, der ebenfalls Klavier studiert hat, in die USA aus. Dort tourt sie am Anfang mit der Geigerin Hilary Hahn, findet einen Manager und spielt in großen Sälen. Doch irgendwann geht es mit der Pianisten-Karriere nicht mehr weiter, ihr Manager stirbt, sie bekommt ein Kind, sitzt zu Hause herum und leidet unter der fixen Idee, daß sie nichts anderes sei als eine blonde Pianistin unter vielen. Schließlich will sie die Musik aufgeben, um Beamtin in der Stadtverwaltung von Washington zu werden.

Und da entdeckt sie im Jahr 2007 Youtube und stellt zaghaft ein erstes privates Video ins Internet, auf dem sie die Etüden von Chopin spielt. Bild und Ton sind furchtbar, aber die Verve und Begeisterung, die Lisitsa herüberbringt, faszinieren die Menschen vor den Bildschirmen. Die Pianistin und ihr Mann, der sich ab jetzt um die Technik kümmert, begreifen schnell, daß Youtube einen kostenlosen, aber mächtigen Werbekanal darstellt.

Ohne Manager, ohne Konzerte, ohne Plattenvertrag stellen beide nun aus ihrem Haus im ländlichen North Carolina jede Woche immer neue Videos ins Internet. Lisitsa spielt das große Repertoire: Beethoven, Chopin, Liszt und Rachmaninow, aber sie ist sich für nichts zu schade, läßt sich beim Üben filmen, bei Auftritten in der Pariser Innenstadt und auf einem Londoner Bahnhof, wo sie im grünen Parka für eingeschneite Wartende spielt. Die unprätentiöse Nähe zu ihren Fans ist sowieso eines der Kennzeichen der Pianistin. Nicht nur kommentiert sie ihre Filme bei Youtube mit lustigen Bemerkungen, sie beantwortet auch Anfragen ihrer Youtube-Fans lebendig und natürlich.

Nur sechs Jahre nachdem sie zum ersten Mal die Internetbühne betreten hat, ist die Künstlerin eine weltberühmte und anerkannte Pianistin geworden. Sie hat die gefürchteten Klavierkonzerte von Rachmaninow für Decca auf CD eingespielt, sie geht weltweit auf Konzerttourneen, und sie spielt mit großen Orchestern und berühmten Dirigenten. Und all das hat sie einem Internetportal zu verdanken, in dem Schund und Unsinn Qualität und Kunst bei weitem überwiegen.

Valentina Lisitsa spielt am 12. Dezember in der Berliner Philharmonie und am 10. Januar 2014 in Regensburg in der Aula der Universität. Im März stehen Auftritte in München und Stuttgart auf ihrem Terminplan.

www.youtube.com/

www.valentinalisitsa.com

Valentina Lisitsa plays Liszt Decca, 2013 www.deccaclassics.com   

Valentina Lisitsa Rachmaninov Die Klavierkonzerte, Paganini Rhapsody Decca, 2013 www.deccaclassics.com  

Foto: Valentina Lisitsa: Die unprätentiöse Nähe zu ihren Fans ist eines der Kennzeichen der ukrainischen Pianistin

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