© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

US-Abhörskandal
Freunde, die keine sind
Jost Bauch

Der NSA-Skandal zeigt einmal mehr in aller Klarheit die Provinzialität des „menschelnden“ deutschen Politikverständnisses, zumindest soweit es die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der in Deutschland herrschenden politischen Klasse und deren Meinungsindustrie anbetrifft. Man ist erschüttert darüber, daß eine „befreundete“ Nation wie die USA zu solchen drastischen Mitteln wie dem Abhören der Kanzler-Handys greift, ein „Vertrauensbruch“, der das deutsch-amerikanische Verhältnis stark belastet.

Verwundert ist man zunächst über die Verwunderung auf deutscher Seite. War man und ist man wirklich der Ansicht, daß eine „elektronische Großmacht“ wie die USA ihre Möglichkeiten der Datenabschöpfung weltweit nicht ausnutzt?

Ist man im politischen Berlin parteiübergreifend wirklich so naiv zu glauben, daß im politischen Geschäft nur die Oberflächenphänomene der offiziellen Verlautbarungen, Verträge und politischen Deklarationen gelten, daß Politik also durchgängig transparent ist und daß es keine zweite Ebene einer Geheimpolitik gibt, wo es darum geht, sich gegenüber Gegnern und Verbündeten strategisch in eine gute Position zu bringen?

Offensichtlich können die deutschen politischen Gutmenschen, die systematisch Politik mit Moral und Betroffenheit verwechseln (Cora Stephan), verblendet durch eben diese Sichtweise, diese zweite verdeckte Seite der Politik gar nicht wahrnehmen. Hier gilt das Prinzip: Was ich nicht sehe, gibt es nicht. Weil sie aufgrund ihres Politikverständnisses diese zweite Dimension nicht erfassen können, glauben sie naiverweise, daß es diese verborgene Seite des Politischen gar nicht gäbe. Sichtbar wird ein stark eingeschränktes Politikverständnis: Die verborgene Seite des Politischen wird unzureichend wahrgenommen und gleichzeitig wird Politik in „vorpolitischen Kategorien“ gedacht.

So etwas macht man nicht unter Freunden, die Freundschaft ist gefährdet. Doch gibt es „Freundschaft“ unter Staaten und Nationen? Der Begriff „Freundschaft“ kommt aus der Interaktionsmoral. Zwei Menschen, die zueinander in einer Beziehung stehen, können befreundet sein. Aber Staaten und Nationen? Freundschaft hat etwas mit Emotionalität zu tun. Menschen als bio-psychosoziale Wesen können befreundet sein, aber nicht formell-abstrakte Organisationen wie Staaten, die über keine eigene Emotionalität, keinen eigenen Affekthaushalt verfügen. Menschen können sich anfreunden, aber Staaten?

Viele Deutsche mögen mit Franzosen befreundet sein, das ist sicherlich gut für das gegenseitige Verständnis. Die Bundeskanzlerin mag mit dem französischen Präsidenten befreundet sein, deswegen gibt es aber immer noch keine Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland als Staatsgebilde. Selbst eine im Kommunismus zu propagandistischen Zwecken ausgerufene „Völkerfreundschaft“ kann es als ernstzunehmende politische Kategorie nicht geben. Denn dann müßte ein Volk ein einheitliches und ganzheitliches Bewußtsein haben und seine Sympathien und Antipathien wie ein Einzelindividuum verteilen. Offensichtlich neigt das so geoffenbarte Politikverständnis dazu, Begriffe und Kategorien, die aus den unmittelbaren Interaktionen von Menschen im sozialen Alltag stammen, unverkürzt und unreflektiert auf das Aggregationsniveau internationaler Politik zu übertragen.

Das hat in Deutschland Tradition. Schon Thomas Mann wußte, daß der Deutsche im Grunde unpolitisch ist. Das hat mit seiner Geschichte zu tun. Wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler nachwies, gelten als deutsche Tugenden die Nibelungentreue, die Redlichkeit, die Aufrichtigkeit, die Tapferkeit der Männer und Keuschheit der Frauen.

Alles Tugenden, die auch Tacitus den Germanen attestierte. Diese aus der unmittelbaren Personenbeziehung gewonnenen Tugenden behindern aber die Ausbildung eines eigenständigen politischen Bewußtseins. Denn Politik erfordert strategisches Denken, Kompromißbildung, ja List und Täuschung.

Die deutsche Interaktionsmoral steht für Prinzipientreue. Wird diese Interaktionsmoral zum dominierenden Prinzip der Politik, so wird jede Kompromißbildung „anrüchig“, bekommt ein „Geschmäckle“, denn man verläßt ja seinen ethisch sauberen Standpunkt, man will den politischen Gegner gar nicht erst überzeugen (was interaktions-moralisch geboten wäre), man einigt sich auf einen („faulen“) Kompromiß und stellt so eine „Win-win“-Situation für beide her. Politik erfordert Raffinesse, strategisches Denken und auch ein gewisses Maß an Skrupellosigkeit (ohne daß Politik notwendigerweise unmoralisch zu sein hat); die Geschichte der Diplomatie gibt eindeutig Zeugnis davon.

Die (deutschen) Eigenschaften wie Treue und Aufrichtigkeit dagegen sind Derivate der Interaktionsmoral und werden als persönliche Treueverpflichtungen unmittelbar auf die Politik und das öffentliche Leben übertragen, was sehr ehrenhaft ist, aber dadurch die Essenz des Politischen verfehlt.

Historisch gesehen schaffte es die Politik in Deutschland nicht (oder eben unvollkommen), sich von den Regularien der Lebenswelt abzukoppeln und das Politische als eigene Seinssphäre – heute würde man sagen: als System mit eigenen Regeln – anzuerkennen, womit dann für diese Seinssphäre andere Regeln gelten als im unmittelbaren Alltag der Bürger. Helmuth Plessner hat in seinem wichtigen Werk „Die verspätete Nation“ diese deutsche Politikunfähigkeit umfänglich beschrieben. Er konstatiert in der deutschen Mentalität eine permanente Verwechslung von Politik und Gesellschaft, wobei letztere mit einem emphatischen Gemeinschaftsbegriff unterlegt ist.

Die Politik konnte sich im Verlauf der Geschichte nur schwer von der Gemeinschaftsmoral freimachen. Werterigorismus, Formenhaß und Gesinnungsethik haben als Folge der Dominanz der Innerlichkeit die Politik bestimmt. Auch diese innere Haltung der Deutschen hat nach Plessner dazu geführt, daß sich der Staat als institutionelle Anstalt und damit auch die Nation nur „verspätet“ etablieren konnte. Für Thomas Mann ist diese Geschichte der deutschen Innerlichkeit auch mitverantwortlich für die Katastrophe des Nationalsozialismus, wenn er schreibt: „Eines mag diese Geschichte (der Innerlichkeit, d. Verf.) uns zu Gemüte führen: daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug.“

Cora Stephan wies Anfang der neunziger Jahre nach, daß auch die „moderne“ Politik der Bundesrepublik sich von Interaktionsmoral, Gesinnungsethik und Innerlichkeit nicht lösen konnte. Das bundesrepublikanische Politikverständnis ist danach geprägt von einem „Betroffenheitskult“. Die Politik ist vergesellschaftet und wird als Verlängerung der moralischen Vorstellungen des guten Bürgers gesehen.

Doch Politik läßt sich nicht auf Moral reduzieren. Nach Stephan ist Politik „das wenig grandiose Rechnen mit dem Möglichen angesichts des Nötigen“. Sie ist der kontrollierte Umgang mit Macht, im Rahmen der Politik werden kollektiv verbindliche Entscheidungen durchgesetzt, Interessen gegen Interessen gesetzt. Politische Entscheidungen haben somit ihren eigenen, auf Moral nicht reduziblen Seinsgrund. Damit muß Politik nicht unmoralisch sein. Moral ist immer eine gesellschaftsweite Kommunikationsform, keinem einzigen gesellschaftlichen Funktionssystem alleine zuordenbar, sie läuft als spezifische Kommunikationsform parallel zu der Operationsweise der gesellschaftlichen Systeme mit, ohne allerdings in Reinform beispielsweise die Essenz des Politischen oder anderer Systeme bestimmen zu können.

Wenn man internationale Beziehungen zwischen Staaten mit Begriffen wie „Freundschaft“ umschreibt, verrät man, daß man die Gesinnungsebene der Alltagsmoral letztendlich nicht verlassen hat, obwohl man sich in einem ganz anderen Terrain bewegt. Nun mag man einwenden, daß der große Staatsrechtler Carl Schmitt mit seiner „Freund/Feind“-Unterscheidung ja den Begriff der Freundschaft und Feindschaft als Basisunterscheidung des Politischen in die politische Diskussion eingebracht hat. Doch hier muß man aufpassen. Schmitt sieht Freund/Feind als Leitunterscheidung des Politischen, diese Unterscheidung hat unmittelbar mit konkreter Politik als Programm und Handlungsanweisung wenig zu tun. Viele machen hier den Fehler wie die Kritiker von Schmitt, wenn sie ihm durch diese Leitunterscheidung latenten Bellizismus (Kriegslüsternheit) vorwerfen. Sie verwechseln damit Codierung und Programm. Die Leitunterscheidung ist nämlich nur als Grundorientierung des Politischen zu verstehen und hat mit der programmatischen Ausrichtung der Politik unmittelbar wenig zu tun.

Gerade für Schmitt ist klar, daß Staaten keine Freundschaften haben können, Staaten haben Interessen. Und wenn es zu Kooperationen von Staaten kommt, dann deswegen, weil sie gemeinsame Interessen haben – die die Eigeninteressen nicht aufheben. Wer gegen diese Interessen verstößt, muß mit Sanktionen rechnen, mit Militärschlägen oder gar Krieg. Der Freundschaftsbegriff ist dabei völlig untauglich, um solche strategischen Partnerschaften, die immer nur auf Zeit bestehen, zu beschreiben.

Nun könnte man meinen, das Ganze sei „Begriffsrabulistik“, ob man ein strategisches Bündnis als Freundschaft bezeichnet oder nicht. So einfach ist es nicht. Denn Freundschaft bedeutet Interessenhomogenität, dem Freund gegenüber kann ich mich ohne Vorbehalt öffnen, ich „kann Schwäche zeigen, ohne Stärke zu provozieren“ (Adorno). Ein Freund ist jemand, der sein Wohl mit meinem verbindet und alles tut, was für mich nützlich ist. Einem Freund gegenüber muß ich meine Interessen nicht immer wieder vor Augen führen und deren Berücksichtigung einfordern, weil die Interessen des Freundes mit meinen identisch sind. Einer Freundschaft liefert man sich aus, man wird wehrlos, weil man weiß, daß das Alter Ego nicht ausnutzt.

Das Entsetzen über die Abhöraffäre in Deutschland zeigt, daß man sich die Beziehung zu den USA genau in diesem Sinne der emphatischen Alltagsmoral als Freundschaft gedacht hat, um jetzt feststellen zu müssen, daß man hintergangen worden ist. Der vermeintliche Freund hat eigene Interessen und hat die freundschaftlich offene Flanke für seine Zwecke ausgenutzt. Letztendlich heißt dies, daß Deutschland gegenüber den USA keine eigene Interessenpolitik betrieben hat, man wurde als eigene Kraft durch die „Freundschaftsduselei“ mattgesetzt.

Vielleicht hat der Abhörskandal auch etwas Gutes: Deutschland muß seine Interessen im internationalen Raum wieder stärker vertreten, Partnerschaft hin, Freundschaft her. Für Cora Stephan steht fest, daß Deutschland erst dann wirklich souverän wird, wenn es das normale Interessehandeln wiedergewinnt, „ohne Rekurs auf die ganz große Moral“.

 

Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er ist Vizepräsident des Studienzentrums Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die deutsche Selbstverleugnung („Flucht vor dem Eigenen“, JF 38/12).

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