© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Pankraz,
Uwe Johnson und die intimen Daten

Überall liest man jetzt über die Zerstörung der Privatsphäre durch Big Data und die Datenspeicherungen staatlicher Geheimdienste. Zahlreiche Zeitgeistverwalter klagen darüber, daß sich das große Publikum „zuwenig empört“, obwohl doch auch seine ganz eigene Sache zur Disposition stehe. Aber viel wichtiger als Empörung, findet Pankraz, wäre wohl ein gelassenes Bedenken der Sache, die genaue Abmessung ihrer wirklichen Dimensionen und die Freilegung unerwarteter eventueller Zusammenhänge.

Hat die Privatsphäre, so wäre etwa zu fragen, soziale und historische Dimensionen, die ernst genommen werden müssen, reicht sie gar über den Tod hinaus, haben also auch längst Verstorbene ein Anrecht auf Respektierung ihrer Privatsphäre? Und wie weit reichen diese Ansprüche und können sie rechtlich einigermaßen fixiert werden? Alles ist noch im Fluß, halbwegs geeinigt hat man sich bisher nur darauf, daß sogenannte „Personen der Zeitgeschichte“ weniger Anspruch auf Schutz der Privatsphäre haben als der sprichwörtliche kleine Mann von der Straße.

Die soziale Aufteilung des Datenschutzes begann Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als der berühmte Filmstar Elizabeth Taylor vor Gericht ging und Klage gegen einige Pressefotografen erhob, die sie mit dem Weitwinkelobjektiv unerlaubterweise „geschossen“ hatten, als sie ein wenig pummelig geworden war und deshalb partout nicht fotografiert werden wollte. Liz Taylor wurde abgewiesen; sie sei – so das Gericht – eine Person der Zeitgeschichte und müsse deshalb Paparazzi-Angriffe hinnehmen.

Etwa zur gleichen Zeit spielte sich in Deutschland ein Prozeß ab, der das Problem von Privatsphäre und Zeitgeschichte in geradezu unheimlicher Weise bündelte und problematisierte. Es ging um das Erbe des Schriftstellers Uwe Johnson (1934–1984). Im Frühjahr ’84 war in dessen Haus in England seine halbverweste Leiche gefunden worden, inmitten von Rotweinflaschen. Der Mann hatte sich, wie später sein Verleger Siegfried Unseld bestätigte, buchstäblich zu Tode getrunken, aus Verzweiflung und Scham darüber, daß seine Frau ihn jahrelang mit einem östlichen Stasi-Agenten betrogen hatte.

Johnson kam „von drüben”, hatte auch seine Frau mit Erlaubnis der SED von drüben nachgeholt – da kannte sie schon den Verführer und Ausspäher vom staatlichen Geheimdienst, der in ihrem Leben so folgenreich aktiv werden sollte.Normalerweise hält man derlei fatale Familiengeschichten ja unter Verschluß, doch Johnsons Drama war ein Drama der Indiskretion. Feuilletonredakteur und „Hausfreund“ Fritz J. Raddatz verbreitete die Einzelheiten in der „Szene“, so daß Johnson eine groteske Flucht nach vorn antrat und die Geschichte nun seinerseits im Rahmen einer Poetik-Vorlesung erzählte.

Und als er gestorben war, brach der Reporter Tilman Jens in das Totenhaus ein und fand eine Kladde, aus der hervorging, daß der bullige, aber hochsensible, auch verquere Johnson seine Frau gezwungen hatte, ihre Erfahrungen mit dem Stasi-Freund häppchenweise niederzuschreiben, um so zu „büßen“. Jens wertete seinen Diebstahl der Kladde umgehend aus, zuerst in einer Stern-Reportage, dann in einem Büchlein für den Piper-Verlag in München, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Jetzt trat der Schriftsteller und Akademie-Präsident Günter Grass auf den Plan. Mit deftigen Worten geißelte er, daß Piper so mir nichts, dir nichts ein „kriminelles Machwerk“ auf den Markt geworfen habe, und auch Suhrkamp-Verleger Unseld bekam sein Fett ab: Wie habe er als Johnsons Alleinerbe es zulassen können, daß da „unveröffentlichte Werke“ des Erblassers in anderen Verlagen ausgewertet würden? Pankraz stand damals einmal voll auf der Seite von Grass, und daran hat sich seitdem nichts geändert.

Zwar könnte man darüber streiten, ob die ominöse Kladde wirklich ein unveröffentlichtes Werk Johnsons war (eher war es wohl ein Werk seiner Frau), aber die Umstände ihrer „Aus-wertung“ waren wirklich kriminell und widerlich. Sie verletzten in horrender Weise die Privatsphäre des verstorbenen Johnson und warfen, nebenbei gesagt, ein höchst trübseliges Licht auf jene Kreise, die sich nicht genug tun können, über Methoden von Boulevardpresse oder Geheimdiensten zu zetern, für sich selbst aber das Recht zu noch viel schlimmeren Methoden in Anspruch nehmen.

Auch im Fall Johnson kam man gleich mit dem Urteil gegen Liz Taylor. Jens und Piper hätten völlig korrekt gehandelt, denn Johnson sei eine Figur der Zeitgeschichte gewesen, und damit sei alles geregelt. Im Klartext lief das auf eine neue Art von Klassentrennung hinaus: Auf der einen Seite diejenigen, für die der Datenschutz gilt, die „Durchschnittsmenschen“, auf der anderen die Figuren der Zeitgeschichte, wer immer das sein mag, die in Sachen Datenschutz gleichsam vogelfrei bleiben, besonders wenn sie schon tot sind. Je länger tot, um so weniger Datenschutz.

Natürlich handelt es sich da um eine absolut unzulässige Unterscheidung. Selbst wenn die Zunft der Historiker es vielleicht nicht gern hört: Auch in ihrer Disziplin sollte Datenschutz gelten. Daß die Naturwissenschaft nicht alles darf, was sie kann, hat sich einigermaßen herumgesprochen. Man sollte endlich realisieren, daß diese Limits auch für die Geisteswissenschaft gelten, für Literatur und Geschichtsschreibung daß also auch Historiker, Psychologen oder Romanschreiber die Privatsphäre und damit die Menschenwürde zu respektieren haben.

Mit einer Einschränkung wissenschaftlicher oder literarischer Freiheit hat das nichts zu tun; der Fall Johnson beweist es. Für eine gerechte Würdigung seiner Bücher ist die Kenntnis jener fatalen Büßer-Kladde nicht notwendig, ja, wahrscheinlich trübt sie sogar die Perspektive, verwandelt Literaturwissenschaft – wie das heute leider so oft geschieht – in pseudo-psychoanalytisches Geschwätz oder gar in hinterhältige verbale Leichenschändung. Für so etwas sollte man sich allerseits zu gut sein.

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