© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Das Große erniedrigen, das Kleine erhöhen
Literarischer Revolutionär: Zum 300. Geburtstag von Laurence Sterne, Autor des „Tristram Shandy“
Heinz-Joachim Müllenbrock

Im Jahr 1760 wurde ein anglikanischer Provinzgeistlicher unversehens zum Star der Londoner Literaturszene. Anlaß dafür war das Erscheinen der ersten beiden Bücher von Laurence Sternes Roman „Tristram Shandy“ (1760–67), die eine literarische Revolution einläuteten.

Schon durch seinen Titel gibt der als großer Scherz daherkommende Roman seinen Neuansatz zu erkennen: „The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman“. An die Stelle der bisher üblichen Taten in den ereignisreichen Romanen eines Defoe, Fielding oder Smollett treten also Meinungen und Ansichten; das Interesse des Lesers wird gezielt von äußerem auf inneres Geschehen gelenkt. Ein paar rudimentäre „inhaltliche“ Angaben beleuchten den Jux, den dieser Antihandlungsroman mit bisherigen Gattungskonventionen treibt. Im ersten Buch wird Tristram gezeugt, im dritten geboren, im vierten getauft, im fünften im Alter von fünf Jahren durch ein herabfallendes Schiebefenster unfreiwillig beschnitten, und im sechsten Buch beschließen die Eltern endlich, dem kleinen Tristram ein Paar Hosen anpassen zu lassen!

Worauf aber beruhte der europäische Erfolg von Sternes Roman? Er verdankte sich einer in der Geschichte der Literatur bislang unbekannten Hingabe an die Darstellung subjektiven Bewußtseins. Die Reduzierung der Welthaltigkeit dieses fast umweltlosen Romans geht nämlich einher mit einer radikalen Konzentration auf das Innere, auf die minutiöse Protokollierung von Bewußtseinsvorgängen auch trivialster Art. In dieser vermeintlichen Trivialität glaubt Sterne gerade dem eigentlich Menschlichen auf die Spur zu kommen.

Das auffälligste erzähltechnische Merkmal von Sternes Neuakzentuierung ist die Digression, die Abschweifung. Letztere hat keinen beiläufigen rhetorischen Charakter mehr, sondern ist strukturbildendes Mittel geworden. Gerade in den Digressionen, vom Autor als Seele der Lektüre bezeichnet, tritt das Individuum Tristram dem Leser in seiner Spontaneität und vielschichtigen Lebendigkeit entgegen. Da der Erzähler sich immer wieder momentanen Eingebungen überläßt und Abschweifungen jeglicher Art nachgeht, tritt die Erzählung buchstäblich auf der Stelle. Dadurch kommt es zu einer grotesken Verzerrung des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit – Ausdruck des Sterneschen Paradigmenwechsels zur Eroberung der inneren Wirklichkeit.

Sternes Erzählverfahren mit seiner ungezügelten Aufzeichnung des sich gerade ins Bewußtsein Drängenden hat Kritiker an die Bewußtseinsstromtechnik des 20. Jahrhunderts denken lassen, und ein Autor wie James Joyce fühlte sich ihm verpflichtet. Trotz solcher Anklänge an die Moderne war Sterne in den Denkgewohnheiten seiner Epoche verankert, denn das theoretische Rüstzeug für die Verständigung über die psychischen Prozesse des Erlebens und Erzählens stammt aus John Lockes epistemologischem Hauptwerk „An Essay Concerning Human Understanding“ (1690), in dem die kontinuierliche, durchaus unberechenbare Folge von Gedanken analysiert wird, durch die sich der Mensch ständig seiner Existenz bewußt wird.

Sternes literarisches Programm impliziert eine Aufwertung des Kleinen, Privaten, Unbedeutenden gegenüber dem öffentlich Bedeutsamen, wie sie sich in Uncle Tobys hobby-horse niederschlägt, der auf seinem bowlinggreen die Schlachten des Spanischen Erbfolgekrieges nachspielt. Mit Sterne reitet übrigens das Steckenpferd in die englische Literatur ein, das nach Meinung dieses Autors den Menschen treffender kennzeichnet als jeder andere Zug. Indem Sterne das Große erniedrigt und das Kleine erhöht, wird er zum Humoristen im Sinne Jean Pauls. Diese Art der Weltsicht tendiert zur Kunst der Idylle und schließt die Gefahr der Sentimentalität ein.

Um ihr zu entgehen, wirft Sterne auch satirische Seitenblicke auf seine mit Wohlwollen gezeichneten Figuren. Trotzdem wird ihm Voltaires Bezeichnung „zweiter englischer Rabelais“ nicht wirklich gerecht, denn ungeachtet gemeinsamer Freude an karnevalesken Sprachspielen unterscheidet sich Sternes milde Ironie erheblich von der derben Zeitsatire des kraftstrotzenden französischen Autors. Nachsichtige, eher zum Lächeln als zum Verlachen einladende Kritik ordnet sich nämlich dem Gesamteindruck unter, daß Sterne die unendlich reich facettierte Menschennatur auch in ihren Schwächen voll bejaht. Allerdings haftet seiner dem Gesprächston angepaßten, bisweilen leicht ermüdenden Schreibweise etwas Spielerisch-Verschrobenes an, was ihm verschiedentlich den Tadel bloßer Tändelei eingetragen hat. Sein Kosmos liebevoll gezeichneter Exzentriker ist trotzdem Ausdruck eines erweiterten Konzepts von Humanität. Zum allzu Menschlichen von „Tristram Shandy“ gehört das Sexuelle, das in zahlreichen frivolen Anspielungen den Roman durchzieht.

Der lebensfreudige Landpfarrer aus Yorkshire, der seine Gemeinde schon mal ausharren ließ, weil er eine Kette Rebhühner noch nicht erjagt hatte, wartete kurz vor seinem Tode noch mit einer weiteren literarischen Sensation auf und schrieb erneut europäische Literaturgeschichte. Nachdem „Tristram Shandy“ den bisherigen Erwartungshorizont des Romanschaffens durchbrochen hatte, schlug „A Sentimental Journey through France and Italy“ (1768) ganz neue Pflöcke für die Reiseliteratur ein. Dieses sozialgeschichtlich mit der Grand Tour, der aristokratischen Bildungsreise, verbundene Schrifttum hatte bis dahin vor allem im Zeichen kollektiver Identitätsbildung gestanden und der patriotischen Abgrenzung Englands von dem propagandistisch verunglimpften europäischen Kontinent mit Frankreich als Hauptzielscheibe gedient.

In „A Sentimental Journey“ legt Sterne den Schalthebel um. An die Stelle der hochnäsig-distanzierten Haltung gegenüber dem Kontinent, wie sie jüngst noch Smolletts „Travels through France and Italy“ (1766) bekundet hatten, tritt der Kosmopolitismus des Gefühls. Die teilweise schon in „Tristram Shandy“ spürbare Verfeinerung des seelischen Sensoriums wird zur geistigen Mitte der von ihrem Autor als „stille Reise des Herzens“ bezeichneten „Sentimental Journey“, die keinen herkömmlichen Unterweisungsanspruch über Land und Leute mehr erhebt, sondern der Überzeugungskraft der menschliches Wohlwollen veranschaulichenden Gemütsbewegungen vertraut. Der für das Zeitalter wichtige Begriff „benevolence“ kann als Geleitwort für Sternes Reisebuch dienen.

In einer Reihe nur scheinbar trivialer Begegnungen mit Menschen verschiedener Lebenslagen, besonders aber Mädchen aus dem Volk, läßt der Selbstironie nicht scheuende Ich-Erzähler Yorick den Stimmungen seines Herzens freien Lauf; ihm erscheint der geringste Anlaß prädestiniert dafür, um in zartesten Gefühlsschwingungen zu schwelgen. Aus diesen Miniaturen wohlwollenden Einanderzugetanseins ragen die dezent getönten amourösen Episoden heraus, für die das Zusammentreffen des seinen gutartigen erotischen Neigungen gern nachgebenden Yorick mit der hübschen Grisette in einem Pariser Handschuhladen, der er den Puls fühlt und Augenblicke gegenseitiger Sympathie voll auskostet, ein vielsagendes Beispiel bildet.

Mit seiner bis ins Extreme verfeinerten Empfindungskunst wurde Sterne zum Impulsgeber der europäischen Empfindsamkeit und „A Sentimental Journey“ zum Kultbuch dieser geistesgeschichtlichen Strömung. Durch Lessings Empfehlung an den Übersetzer J.J.C. Bode, den von Sterne mit vertiefter Bedeutung gebrauchten Begriff „sentimental“ mit „empfindsam“ wiederzugeben, ging dieses Wort als Neuschöpfung in die deutsche Sprache ein.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über George Bernard Shaw (JF 11/13).

Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Fischer Taschenbuch, broschiert, 880 Seiten, 14,50 Euro

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