© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Knapp daneben
Öffentliche Bloßstellung
Karl Heinzen

Wer eine Stelle sucht, muß lügen können. Eigentlich ist er ja nur auf das Gehalt aus und mag allenfalls auch das Bedürfnis haben, nicht bloß nutzlos herumzulungern. Diese Wahrheit wollen jene, die über eine Einstellung entscheiden, aber nicht hören, obwohl sie ganz genau wissen, daß es so ist.

Also schreibt jeder vernünftige Mensch in seinen Bewerbungen, daß ihn dieses renommierte Unternehmen, von dem er in Wirklichkeit noch nie etwas gehört hat, ganz besonders fasziniert und er sich unglaublich auf die Herausforderungen freut, die der spannende Job mit sich bringt. Wer sich scheut, so dick aufzutragen, behauptet wenigstens, gerne etwas mit Menschen zu tun zu haben. Das ist in kaum einem Beruf zu vermeiden, und es soll tatsächlich Leute geben, die, zumeist aus einem Mangel an Lebenserfahrung, so empfinden.

In Gewissensnot muß niemand wegen dieser Unaufrichtigkeit geraten, da sie, wenn man die Stelle wieder verliert, mit einer ebensolchen beantwortet wird. Im Zeugnis stehen dann Lobeshymnen, als wäre man der Betriebsheilige gewesen, und fiese Chefs wünschen alles Gute für den weiteren Lebensweg.

Früher war die Überidentifikation mit dem Unternehmen nur bis zum Ende der Probezeit erforderlich. Das ist heute Vergangenheit. Immer mehr Unternehmen setzen in der Werbung nicht länger Prominente oder Models, sondern die eigene Belegschaft ein. So skandieren Obi-Mitarbeiter gruselige Slogans, Beschäftigte des Unterwäscheherstellers Comazo lassen die Hüllen fallen, oder eine Filialleiterin der Commerzbank joggt durch Frankfurt und grübelt über die Finanzmärkte. Die neue Praxis hat Konsequenzen. Bewerber müssen sich genau überlegen, ob sie es mit ihrer Menschenwürde vereinbaren können, öffentlich als Mitarbeiter bloßgestellt zu werden. Unternehmen haben weniger auf die Qualifikation, sondern auf das Aussehen der Interessenten zu achten.

Nicht zu beneiden sind die Historiker von morgen. Sie werden vor dem Rätsel stehen, warum die Deutschen, wie die Werbekampagnen dieser Zeit zeigen, schlagartig so plump und gewöhnlich geworden sind.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen