© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

Folgenreicher Rohrkrepierer
Vor vierzig Jahren: Der „Anwerbestopp“ ersetzt Arbeitsmigration durch Einwanderung in die Sozialsysteme
Michael Paulwitz

Es ist nicht auszuschließen, daß die gegenwärtige Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird. Unter diesen Umständen ist es nicht vertretbar, gegenwärtig weitere ausländische Arbeitnehmer über die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit für eine Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik zu vermitteln.“ Das war er, der „Anwerbestopp“, ausgesprochen am 23. November 1973 in einer dürren Anweisung von Bundesarbeitsminister Walter Arendt an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit.

Selten ging Regierungshandeln so gründlich nach hinten los wie der vor vierzig Jahren unternommene Versuch, den Ausländerzuzug in die Bundesrepublik Deutschland per Erlaß zu begrenzen. Äußerer Anlaß war die drohende wirtschaftliche Rezession nach dem Erdölboykott der arabischen Förderländer wegen des Jom-Kippur-Kriegs gegen Israel. Tieferer Grund waren die unübersehbaren sozialen und innenpolitischen Folgen des Gastarbeiterzuzugs, der längst zur Einwanderung auf Dauer geworden war – mit allen negativen Begleiterscheinungen, von der Ghettobildung bis zu ersten ethnisch-kulturellen Konflikten mit der autochthonen deutschen Bevölkerung. SPD-Bundeskanzler Willy Brandt hatte schon im Januar 1973 sinniert, ob nicht „die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft“ sei.

Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps befanden sich knapp vier Millionen ausländische Staatsangehörige in Westdeutschland, die 6,4 Prozent der Wohnbevölkerung ausmachten, bis 1980 war ihre Zahl um eine halbe Million auf einen Anteil von 7,2 Prozent gestiegen. Hinter den scheinbar nahezu konstanten Zahlen, deren sich auch Bundeskanzler Helmut Schmidt noch rühmte – unter seinem Nachfolger Helmut Kohl hatte sich die Zahl der Ausländer in Deutschland faktisch verdoppelt – steckt tatsächlich eine gewaltige demographische Umwälzung.

Die meisten Türken kamen nach dem Anwerbestopp

Von 1974 bis 1980 blieb die Zahl der Italiener in der Bundesrepublik – für sie, als EG-Angehörige, galt der Anwerbestopp als einzige nicht – mit gut sechshunderttausend fast konstant. Das Gros der 400.000 Griechen und 600.000 Spanier ging ebenfalls wieder nach Hause – gut ein Viertel bzw. ein Drittel bis 1980, seit Ende der Achtziger zählte man noch gut hunderttausend Spanier und 270.000 Griechen, die nicht eingebürgert wurden und sich binnen einer Generation geräuschlos integrierten. Dagegen stieg die Zahl der Türken in Westdeutschland von 712.000 Registrierten im Jahr 1972 auf über eine Million 1974 und 1,46 Millionen 1980 – eine Verdoppelung in weniger als einem Jahrzehnt.

An der Wiege der Anomalie, daß die Zahl der türkischen Staatsangehörigen als einzige Ausländergruppe aus den Anwerbestaaten nach dem Anwerbestopp sogar noch deutlich anwuchs, steht eine Reihe von Faktoren. In Spanien und Griechenland ging es in den Siebzigern nach dem Ende von Franco-Herrschaft und Militärdiktatur auch wirtschaftlich nach oben, während sich in der Türkei Chaos und Wirtschaftskrise noch verschärften und schließlich das Militär wieder eingreifen mußte. Ursächlich für das Anwerbeabkommen mit der Türkei von 1961 war nach heutigem Stand der Forschung nicht der Wunsch der deutschen Wirtschaft nach billigen Arbeitskräften, sondern das von den USA unterstützte Drängen der Türkei, ihre sozialen, ökonomischen und demographischen Probleme exportieren und dabei die Außenhandelsbilanz durch Rücküberweisungen der „Gastarbeiter“ aufbessern zu können.

Die Regierung in Ankara war daher an der Rückkehr ihrer Landsleute ebensowenig interessiert wie diese selbst. Zu kraß wäre der Absturz im materiellen und sozialen Status ausgefallen. Zwar waren die meist ungelernten oder wenig qualifizierten türkischen Arbeitskräfte in dem Strukturwandel, der auf Rezession und Ölkrise folgte, überproportional häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Da sie jedoch sozial- und arbeitsrechtlich einheimischen Arbeitskräften von Anfang an faktisch gleichgestellt waren, war Arbeitslosigkeit in Duisburg oder Kreuzberg einer Arbeitslosigkeit in Anatolien noch immer vorzuziehen.

Vor dem Anwerbestopp hatten viele türkische Arbeitnehmer mehrmals abwechselnd in Deutschland gearbeitet und in der Heimat gelebt. Angesichts der Perspektive, nach einer Ausreise möglicherweise nie wieder zurückkommen zu können, entschieden sich viele Gastarbeiter, zu bleiben und ihre Familien ganz nachzuholen. Wer nur einen befristeten Aufenthaltstitel besaß, tauchte oft in die Illegalität unter; schon 1973 schätzte man über die Registrierten hinaus die Zahl der in Deutschland lebenden Türken auf annähernd eine weitere Million.

Schon in den Sechzigern war der Wirtschaft zuliebe die strikte Befristung der Anwerbeverträge aufgehoben und der Familiennachzug gestattet. Dieser wurde nach dem Anwerbestopp nicht etwa zurückgenommen, sondern 1974 sogar noch erweitert und bestätigt. Die Nachzugspotentiale waren enorm: Ende 1973 zahlten die deutschen Sozialkassen Kindergeld für 868.000 im Ausland lebende Gastarbeiterkinder, dreieinhalb mal so viele wie ein Jahrzehnt zuvor.

Der Familiennachzug setzte nach 1973 verstärkt ein

Der gescheiterte Versuch, diese Zahlungen durch Einfrieren der Sätze auf niedrigerem Niveau zu begrenzen, heizte die Einwanderung durch Familiennachzug erst richtig an. Nach den Kindern und ihren Müttern kamen die „fremden Bräute“, mit denen sich die entstehenden Parallelgesellschaften weiter abschotteten. Weil es der Bundesregierung an der Konsequenz fehlte, nach dem Anwerbestopp auch den Familiennachzug zu unterbinden und die Rückführung der nicht mehr benötigten Arbeitskräfte einzuleiten, führte der Erlaß vom 23. November 1973 faktisch zur Ablösung der Arbeitsmigration durch Einwanderung in die Sozialsysteme. Noch 1970 nahmen vier Fünftel der Neuzuwanderer anschließend eine Erwerbstätigkeit auf, nach 1973 nicht einmal jeder fünfte.

Je länger dieser absurde Zustand anhielt, desto schwerer war er zu revidieren. Die zu Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls unternommene „Rückkehrförderung“ durch Geldprämien blieb wirkungslos. Denn inzwischen hatte die von den Kirchen ausgehende Multikulturalismus-Lobby die Türken in Deutschland als lukratives Betätigungsfeld entdeckt und setzte die Politik unter wachsenden moralischen Druck. Den Trumpf, den ihr der mißglückte „Anwerbestopp“ von 1973 zuspielte, hat sie bis heute nicht aus der Hand gelegt.

Foto: Türkische Kinder in Gelsenkirchen-Buer 1979: Angesichts der Perspektive, nach einer Ausreise möglicherweise nie wieder zurückkommen zu können, entschieden sich viele Gastarbeiter, zu bleiben und ihre Familien ganz nachzuholen

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