© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

Der „Boche“ zahlt alles
Europas Südstaaten verpaßten die Globalisierung, retteten sich aber in den Euro
Wolfgang Müller

Die Euro-Krise ist zu bewältigen. Vorausgesetzt es werden zwei Hürden genommen. Denn letztlich, so wagt der auch „Politische Geographie“ lehrende Tübinger Wirtschaftsgeograph Georg Halder zu prophezeien, komme es nur darauf an, die vermögende Klasse der Südländer effizienter zu besteuern und, wenn dies voraussichtlich mißlingt, die solventen Nordeuropäer, primär die Deutschen, zur „Alimentation“ jener Teile der Staatsausgaben und des Konsums heranzuziehen, „die in den Krisenländern nicht selbst erwirtschaftet werden“ (Geographische Rundschau, 10/2013). Halders Rezeptur ist damit nahe dran am Versailler Motto des Deutschenhassers Georges Clemenceaus „Le boche payera tout“, dem die Architekten des „Versailles ohne Krieg“ in Maastricht ebenso gehorchten, wie es jetzt offenkundig den Kurs der „EuroRetter“ bestimmt.

Originell an Halders Rückblick auf die deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1990 ist allerdings die illusionsfreie Analyse der – Frankreich einbeziehenden – Lage im Süden der EU. Bald nach Maastricht habe sich nämlich abgezeichnet, daß die mediterranen Länder zu den Verlierern der Globalisierung zählten. Folglich spielte dieser Raum, wie die gesamte Eurozone, für die deutsche Wirtschaft seit 1999 eine immer geringere Rolle. Bis 2008 hat sich ihr Export in den Euroraum verdoppelt, nach Asien indes versiebenfacht. Der Euro wirkte in dieser Zeit, ungeachtet einiger positiver Effekte, sogar als veritabler Bremsklotz, denn die Aufgabe der eigenständigen Währungspolitik habe nach 2002 eine noch raschere Erholung der deutschen Wirtschaft behindert. Halder stimmt hier unausgesprochen der vernichtenden Bilanz des Hallenser Wirtschaftswissenschaftlers Götz Zeddies zu (List-Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 2011, JF 45/12), die wiederum Thilo Sarrazins Credo motivierte: „Deutschland braucht den Euro nicht.“

Doch Frankreich, Italien, Griechenland, Portugal und Spanien verschliefen in den 1990ern nicht nur die Phase beschleunigter wirtschaftlicher Integration (ergo „Globalisierung“), um an einer irgendwie auch liebenswerten, entschleunigten Lebensweise festzuhalten. Selbst in den Industriedistrikten des „Dritten Italien“ sei mittelständischen Unternehmen der Aufbau von Produktionsnetzwerken über Ländergrenzen hinweg nicht gelungen. Nun sehen sich die Italiener, ohnehin eher auf konjunkturabhängige Konsumprodukte der Modebranche spezialisiert, in hohem Maße dem Wettbewerb der Schwellenländer ausgesetzt.

Und in den anderen Krisenstaaten könne man von Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt eigentlich gar nicht mehr reden. Griechenland müsse, um in ferner Zukunft eine ausgeglichene Handelsbilanz zu erzielen, um vierzig Prozent günstiger exportieren, eine surreale Strategie, die nur dann zum Ziel führt, wenn die deutsche Industrie auf ihre Exportwaren zwanzig Prozent draufschlägt.

Die Großkollektive des alten Kontinents unterscheiden sich eben ungeachtet aller auf „mehr Europa“ einschwörenden kosmopolitischen Predigten durch unübersteigbare Festlegungen der „Nationalcharaktere“. Und gerade die Deutschen erscheinen allen Nachbarn so wie vor dem Ersten Weltkrieg: als das Arbeitsvolk Europas.

Ein französischer Diplomat, 1911 befragt, was er für den Wesenszug seiner „Erbfeinde“ halte, antwortete: „Ils travaillent trop.“ Der Philosoph Max Scheler (1874–1928), eifriger Interpret des „Deutschen Wesens“, war überzeugt, die Deutschen seien wie geschaffen für die industrielle Moderne. Nur sie hätten sich in der Arbeit eine Freudenquelle erschlossen. Sie liebten sie, und sie verstünden es, Arbeit optimal zu organisieren, was ihre vorzügliche militärische Begabung ebenso erkläre wie ihre „faustische“, stets auf den „letzten Grund der Dinge“ gerichtete technisch-wissenschaftliche Intelligenz. Zugleich lägen hier die wahren „Ursprünge des Deutschenhasses“, da ihr hohes Arbeitstempo, gepaart mit Erfindungsreichtum und Gründlichkeit, seit der Reichsgründung Süd- und Westeuropäern die zweite „Vertreibung aus dem Paradies“ ihrer bis dahin gepflegten schwelgerischen Gemächlichkeit zumutete.

Die Pointe dieser Argumentation ist bis heute nicht widerlegt: Für Scheler waren sämtliche Schichten des deutschen Volkes durch den gesteigerten Arbeitswillen verbunden, während, wie Halder herausstellt, es in den Krisenländern Südeuropas auch nach einer 150jährigen nationalstaatlichen Entwicklung an einem tragfähigen Fundament gemeinsamer Werte fehle. Anders als nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation zu erwarten war, hätten die „alten, halbfeudalen Eliten“ aus Francos oder aus Zeiten der griechischen Militärjunta nach 1990 weder ihre Machtbastionen verloren, noch hätten sie einen Gemeinschaftssinn entwickelt, der über Egoismen ihrer Klasse, tribalistischer Clans oder mafiöser Cliquen hinausreiche.

Die historische Chance einer Modernisierung ihrer Volkswirtschaften mittels der Zinsvorteile des Euro hätten sie verstreichen lassen. Euroströme flossen stattdessen in die Bauwirtschaft und den Konsum. Eine „patriotische“ Wirtschaftselite, die ihre „gewaltigen Vermögen“ trotz weltweit attraktiver Alternativen im Inland reinvestiere und sich fair besteuern lasse, habe sich daher lediglich rudimentär in Norditalien, Katalonien oder im Baskenland herausgebildet. Und eine Mittelschicht, die diese „Eliten“ verdrängen könnte, um die Südländer in die „Rahmenbedingungen“ der Globalisierung einzufügen, sei auch 2013 nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Die alte staatsgläubige französische Elite etwa hoffe, sich über die Aufweichung von Stabilitätszielen und erhöhte Inflation „aus der Krise herauszuwachsen“. Statt einer nachhaltigen Änderung der Wirtschaftspolitik in den krisengeplagten Südstaaten, die einem Austausch der Nationalcharaktere gleichkäme, bleibe den Euro-Rettern in Halders Szenario wohl nur deren alternativlose „Alimentation“ in der „Form der Vergemeinschaftung der Schulden“.

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