© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

In der Tabuzone der Sieger
Charles Glass über das Schicksal der etwa 150.000 Deserteure der Alliierten im Zweiten Weltkrieg
Wolfgang Kaufmann

Während in Deutschland seit 1986 immer neue Denkmäler für die Deserteure des Zweiten Weltkrieges errichtet wurden, wollte in den USA und Großbritannien noch bis vor kurzem niemand am Thema der Fahnenfluchten innerhalb der Truppen der Anti-Hitler-Koalition rühren.

Insofern bricht Charles Glass, ein früherer ABC-Korrespondent für den Mittleren Osten, der 1987 für 62 Tage Geisel schiitischer Milizen im Libanon gewesen war, tatsächlich eines der letzten großen Tabus der Zeitgeschichte, wenn er nun die aufschlußreiche Geschichte der 50.000 amerikanischen und 100.000 britischen Militärangehörigen erzählt, die auf den Kriegsschauplätzen in Europa und Nordafrika desertierten.

150.000 Mann – das heißt, daß immerhin jeder hundertste Kämpfer seine Truppe illegal verließ. Dabei handelte es sich insbesondere bei den amerikanischen Deserteuren zumeist nicht um Feiglinge oder Drückeberger, sondern um erprobte und oft auch idealistische Frontsoldaten, die einfach an den fatalen Konstellationen zerbrachen, die sie mit „Snafu“ zu charakterisieren pflegten: „Situation Normal, All Fucked Up (deutsch in etwa: Lage normal, alles im A...)“. Unter Snafu fiel alles mögliche: menschenverachtende Behandlung durch unfähige Vorgesetzte, schlechte Versorgung, katastrophale Hygiene, vor allem aber die Tatsache, daß immer wieder die gleichen Einheiten bluten mußten, weil niemand es für nötig hielt, sie nach einer gewissen Zeit in vorderster Linie gegen andere Truppen auszutauschen.

Und so selbstverständlich, wie es für die militärische Führung war, daß bestimmte Infanterie-Divisionen in Frankreich und Italien Personalverluste von bis zu 75 Prozent erlitten, so normal wurde es für manchen GI in diesen Einheiten dann eben auch, hierauf mit Fahnenflucht oder Befehlsverweigerung vor dem Feind zu reagieren. Einer dieser Befehlsverweigerer, der dabei noch nicht einmal sein persönliches Wohl im Auge gehabt hatte, sondern das seiner Untergebenen, war Lieutenant Albert C. Homcy von der 36. Infanterie-Division, der am 19. Oktober 1944 von einem Militärgericht in Docelles zu fünfzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, weil er den Befehl nicht ausgeführt hatte, unausgebildete Köche, Bäcker und Ordonanzen gegen deutsche Panzer loszuschicken. Insgesamt gab es im Herbst 1944 in der US Army in Europa pro Monat 8.500 Fälle von Desertion beziehungsweise ebenso strafbarer längerer unerlaubter Abwesenheit.

Ähnlich lagen die Probleme bei den Briten: Seit Rommels Offensive in Nordafrika stieg die Zahl der Fahnenfluchten unter den dortigen Truppen derart stark an, daß bald sämtliche Militärgefängnisse in Nahost hoffnungslos überfüllt waren und Oberbefehlshaber Claude Auchinleck die Wiedereinführung der Todesstrafe für Deserteure forderte, was aber aus innenpolitischen Gründen abgelehnt wurde. Deshalb sah man sich schließlich gezwungen, alle britischen Militärlager mit einem dreifachen Ring aus Stacheldraht zu umgeben, um die „Abgänge“ zu reduzieren.

Zum schlimmsten Alptraum der alliierten Kommandeure und Politiker gerieten freilich nicht die Deserteure, welche einfach irgendwo abtauchten, um das Kriegsende abzuwarten, sondern jene, die damit begannen, sich zu Banden zusammenzuschließen, deren vornehmste Betätigung darin bestand, den alliierten Nachschub zu plündern und die Beute auf dem Schwarzmarkt zu verhökern.

Das begann nach der Landung in Italien, wo es zudem zu einer engen und „fruchtbaren“ Zusammenarbeit mit der örtlichen Mafia kam. Einen besonderen Ruf erwarb sich dabei die „Lane Gang“ unter der Führung des 23jährigen Private Werner Schmeidel, welche sogar einen kompletten Army-Tresor mit 133.000 Dollar Bargeld mitgehen ließ. Im Herbst 1944 litt dann vor allem General Pattons Offensive in Richtung der Reichsgrenze darunter, daß US-Deserteure im Verein mit französischen Kriminellen die Versorgungsfahrzeuge mit Lebensmitteln und Treibstoff ausraubten.

Am dramatischsten jedoch war die Lage im befreiten Paris, wo die blanke Anarchie herrschte: Zwischen August 1944 und April 1945 erfaßte die Criminal Investigation Branch der US Army hier 7.912 schwere Straftaten, davon 3.098 Fälle von Plünderung von US-Militärgütern sowie 3.481 Fälle von Vergewaltigung und Mord, die zumeist auf das Konto fahnenflüchtiger GIs gingen. Eine ähnliche Deserteursszene gab es auch in England – dort waren an die 40.000 britische Soldaten untergetaucht und zeichneten für neunzig Prozent aller Verbrechen im Lande verantwortlich.

Bei der Bekämpfung dieser Zustände agierte die US-Militärjustiz deutlich rigider als die britische: Von Juni 1944 bis Herbst 1945 wurden siebzig US-Soldaten wegen der schweren Verbrechen hingerichtet, welche sie im Rahmen ihrer Desertion begangen hatten, während die Heerscharen der „normalen“ Fahnenflüchtigen in riesige Straflager wie das Loire Disciplinary Training Center wanderten, wo allein schon 4.500 Verurteilte einsaßen. Dort wurden sie systematisch gedemütigt und mißhandelt – ebenso sind Todesfälle belegt, die die Wachmannschaften dann ebenfalls vor ein Militärgericht brachten. In England hingegen endete die Jagd nach Deserteuren häufig wie das Hornberger Schießen. So führte eine Riesenrazzia der britischen Militärpolizei am 14. Dezember 1945, genannt „Operation Dragnet“, gerade einmal zu vier Verhaftungen, obwohl in London allein schon um die 20.000 Fahnenflüchtige lebten.

Anfang 1945 setzte sich in der US Army dann jedoch zunehmend die Auffassung durch, daß die verurteilten Deserteure in der Mehrzahl gute Soldaten seien, die aufgrund ihrer mentalen Überforderung während der langanhaltenden Kampfeinsätze eher in eine Klinik als in Haft gehörten. Dem konnten die Militärpsychologen nur beipflichten, so daß es schließlich zu einer Revision der meisten Urteile kam, die auf Zwangsarbeit zwischen 15 Jahren und lebenslänglicher Haft lauteten.

In Großbritannien hingegen tat man sich mit einer Rehabilitation noch lange schwer – hier war erst massiver Druck seitens der Öffentlichkeit nötig, bis Premierminister Churchill im Februar 1953 eine offizielle Amnestie verkündete.

Charles Glass: The Deserters. A hidden history of World War II. Penguin Press, New York 2013, gebunden, 380 Seiten, Abbildungen, 20,40 Euro

Foto: Exekution von sechs Angehörigen der französischen Vichy-Milizen in Grenoble durch Alliierte 1944: Im befreiten Paris herrschte durch das Unwesen der alliierten Deserteure blanke Anarchie

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