© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Ein Salto mortale in den „Griechenglauben“
Zum 50. Todestag des Freiburger Literaturhistorikers Walther Rehm
Thomas Foerster

Das Olympia-Jahr 1936 bescherte den Deutschen eine Flut von Veröffentlichungen über das „artverwandte Griechentum“ (Alfred Rosenberg). Darin erschienen „Hellas und Germanien“ als die zwei welthistorisch führenden unter den indoeuropäischen Kulturvölkern.

Auf den ersten Blick präsentierte sich der propagandistisch angeheizte Enthusiasmus für das antike Griechenland, wie er sich auch in der „faschistischen Ästhetik“ von Leni Riefenstahls Olympia-Filmen spiegelt, als Wiederanknüpfung an die „Gräkomanie“ der Weimarer Klassik. Schärferem Hinsehen erschloß sich jedoch schnell der Gegensatz zwischen den Goethe- und den Goebbels-Griechen.

Um diese unaufhebbare Differenz zweier Antike-Rezeptionen zu erkennen, dafür mußte der deutsche Bildungsbürger nur das 1936 druckfrische Werk eines Münchner Literaturhistorikers aufschlagen, Walther Rehms „Griechentum und Goethezeit“. Lange vor 1933 konzipiert, entfaltete es während der NS-Herrschaft mit seiner Gleichsetzung von Deutschtum, „Griechenglauben“ und Humanitätsidee sein oppositionelles Potential. „Rehms Entwurf eines in der griechischen Humanität sich erfüllenden Deutschtums mündete in einen kaum verhüllten Angriff auf die nationalsozialistische Staats-idolatrie“, wie Ernst Osterkamp über dieses Buch als „bedeutendes ‘Zeugnis der nonkonformistischen Literaturwissenschaft’“ im Dritten Reich treffend bemerkt. Eine „Form des inneren Widerstands“ (Osterkamp), die sich indes mehr noch gegen die NS-Verabsolutierung der „Rasse“ richtet, da Rehm Winckelmann, Goethe, Humboldt und Hölderlin als Propheten eines universalistischen, kosmopolitischen Deutschlands vereinnahmt, um sie gegen den Partikularismus der völkisch-biologisch verstandenen NS-Nation auszuspielen.

Walther Rehm, im November 1901 als Sohn des vielseitigen, zuletzt an der Reichsuniversität Straßburg lehrenden Staats- und Handelsrechtlers Hermann Rehm (1862–1917) geboren, hat seine Widerborstigkeit lediglich mit einer recht späten Erstberufung, 1938 nach Gießen, sowie mit einigen Demütigungen durch das Berliner Wissenschaftsministerium und Parteiinstanzen bezahlt, bevor 1943 der Wechsel nach Freiburg gelang, in die Fakultät Martin Heideggers. Trotzdem konnte Rehm als Lehrer und Forscher während der „1000 Jahre“ ungehindert wirken, ohne das kleinste rhetorische Zugeständnis machen zu müssen; sein anspruchsvolles „Griechentum“-Werk erlebte 1938 sogar eine ungewöhnliche zweite Auflage.

Nachhaltig überwanden Rehms Aufbereitungen deutscher Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts engere Fachgrenzen aber erst nach 1945. Denn in der frühen Bundesrepublik entstand wieder ein Resonanzfeld für eine „humanistische“, nationale wie europäische Identität. Der unter dem „Generalnenner ‘Abendland’ auf Westeinbindung konditionierten Leserschaft“ habe, wie Osterkamp meint, Rehms „Griechentum und Goethezeit“, 1952 prompt in dritter, unveränderter Auflage greifbar, „besonders aktuelle Anschlußmöglichkeiten“ offeriert. Gleichzeitig kamen mit „Götterstille und Göttertrauer“ (1951) die zwischen 1931 und 1943 in Zeitschriften versteckten Aufsätze zur „deutsch-antiken Begegnung“ heraus, gefolgt von den Sammlungen „Begegnungen und Probleme“ (1957) und „Späte Studien“ (1964), begleitet von Essays zu Novalis, Hölderlin, Rilke, Stifter, sowie von seiner großen Edition der Briefe Winckelmanns (1952–1957), von Neuauflagen seiner bahnbrechenden Münchner Habilitationsschrift über „Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik“ (1928/1967) wie seines 1930 veröffentlichten Beitrags zur „Geschichtsschreibung des Dekadenzproblems“, der den „Untergang Roms im abendländischen Denken“ analysierte (1966).

Die häufigste lexikalische Zuschreibung, die Rehm erfährt, ist die, zu der von Wilhelm Dilthey (1833–1911) begründeten „geistesgeschichtlichen Schule“ der Deutschen Philologie zu gehören. Methodologisch, Dilthey mit seinen epochenübergreifenden, ideenhistorischen Darstellungen nacheifernd, trifft dies sicher zu. Nicht aber für die ideellen Grundlagen, da Rehm den relativierenden Historismus des Berliner Philosophen hinter sich lassen wollte. Darum vertraute er auf die zeitlose Gültigkeit der zwischen 1760 und 1830 revitalisierten antike Werte. In der Epoche Goethes wollte er die unwandelbaren ethischen Orientierungen finden, an denen sich die literaturwissenschaftliche Bildungs- und Erziehungsaufgabe nicht nur unter dem totalitären NS-Regime auszurichten hatte. Rational war diese „Wertentscheidung“ für das ewig „Wahre“ nicht begründbar, es war vielmehr ein „dezisionistischer Akt“ (Michael Schlott), ein letztmals Rehms Generation glückender Salto mortale in den „Griechenglauben“.

Walther Rehm starb in Freiburg am 6. Dezember 1963, gerade rechtzeitig, bevor seine humanistische Bildungsreligion, als „antiquiert“ ausgemustert, aus den Hörsälen und Seminaren deutscher Universitäten verschwand.

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