© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Von Kennedy gelernt
Ikonographie: Woher die bis heute andauernde Strahlkraft Willy Brandts rührt
Thorsten Hinz

Im Vorfeld seines 100. Geburtstags erscheint Willy Brandt als eine politische Ikone, vielleicht die einzige, welche die Bundesrepublik vorzeigen kann. Brandt erscheint auf Titelblättern, es gibt Fernsehsendungen, Gedenkveranstaltungen, die Zeitungen widmen ihm Themenschwerpunkte.

Die Berufung auf den einstigen SPD-Vorsitzenden und vierten Bundeskanzler entspringt einem Bedarf nach Legitimation und Selbstvergewisserung. Nicht Adenauer, nicht Helmut Kohl, nicht einmal Helmut Schmidt können ihn erfüllen. Die FAZ titelte vor einigen Monaten: „Mehr Willy Brandt wagen“. Woher kommt seine ikonische Strahlkraft?

Ikonen sind sakrale Bilder, die für den Betrachter ein Gegenstand der Verehrung sind. Die Brandt-Ikone vereint drei Aspekte, die jeweils durch Fotos und Zitate eindrucksvoll belegt sind: Da ist erstens Brandt, der Patriot, der als Regierender Bürgermeister gegen die Teilung Deutschlands protestiert und sich gegen den sowjetischen Zugriff auf West-Berlin stemmt.

Fotos aus dem Jahr 1961 dokumentieren seinen Zorn und seine Ohnmacht angesichts des Mauerbaus. Empört über den Gleichmut der westlichen Verbündeten, rief er damals: „Berlin erwartet mehr als Worte!“ 1964, als klar war, daß der Zustand andauern würde, prägte er den philosophisch anmutenden Satz: „Die Mauer steht gegen den Strom der Geschichte.“

Und schließlich, beim Mauerfall 1989: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!“ Ein Brückenelement ist das 1970 aufgenommene Foto, das ihn am Fenster des Erfurter Interhotels zeigt. Tausende DDR-Bürger, die in ihm ihren Hoffnungsträger erblicken, haben sich davor versammelt. Seine beschwichtigende Handbewegung drückte seine knapp bemessenen Möglichkeiten aus und zugleich das Versprechen, daß er sich auch für die DDR-Deutschen in der Pflicht sah.

Den zweiten Aspekt decken die Fotos und Filmsequenzen von seinem Kniefall am Mahnmal auf dem Gelände des einstigen Warschauer Ghettos ab: Ein Bekenntnis der Schuld und ein Zeichen der Reue. Und schließlich Brandt, der sozialdemokratische Innenpolitiker, der einen gesellschaftlichen Aufbruch verspricht – „Mehr Demokratie wagen“ –, Aufbruchshoffnungen weckt und gerade junge Wähler begeistert. Ein Wahlplakat zeigt ihn mit offenem Hemd und Gitarre, eine Zigarette lässig im Mundwinkel. Angedeutet wird damit eine innere Entspannung, die Aussöhnung der Bundesrepublik mit sich selbst.

Dieser innenpolitische Aspekt ist der problematischste und hatte die kürzeste Halbwertzeit. Für Brandt bildeten Freiheit und Verantwortung eine natürliche Einheit. Die Gefahr des verantwortungsfreien Hedonismus, die seine kostspielige Reformpolitik in sich barg, sah er nicht vorher. Und das postdemokratische Zeitalter, in dem „Demokratie“ bestenfalls als Tarnbegriff und schlimmstenfalls als Gummiknüppel dient, lag völlig außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Begünstigt wird sein ikonischer Effekt durch den historischen Hintergrund. Die seit 1957 schwelende Berlin-Krise war lebensgefährlich. Damals wurde die Sowjetunion von Männern regiert, die ihr Handwerk unter Stalin gelernt hatten. Ihnen erfolgreich die Stirn geboten zu haben, hat zu seinem Ruf beigetragen. Andererseits sind die meisten Personen und Ereignisse von damals in Vergessenheit geraten. Warum hat Brandt sie überdauert? Wegen der Arbeit an seinem Image, könnten böse Zungen behaupten.

Das Image, der emotionale Gesamteindruck, den eine Person vermittelt, wird heute professionell durch Werbeagenturen erzeugt. Brandt gehörte zu den Pionieren auf diesem Gebiet und hat aus den amerikanischen Wahlkämpfen – insbesondere aus Kennedys Auftritten – gelernt. Auf Plakaten und Manifestationen präsentierte er sich als dynamischer und vitaler Tatmensch. Hinter den Kulissen sah es, wie man heute weiß, oft ganz anders aus. Ein Image aber ist unbeständig und wird schnell vergessen, wenn der Betreffende erst aus dem Amt geschieden ist.

Brandt besaß folglich mehr, nämlich Charisma: Jene besondere Ausstrahlung, die nach Max Weber eine „Gnadengabe“ ist. Seine enorme und vielberedete Wirkung auf Frauen gehörte dazu. Über die Geltung des Charismas entscheidet laut Weber die Bewährung. Bewähren kann es sich durch Wunder oder durch entscheidende Taten, die Vertrauen und Anerkennung schaffen. Bleibt die Bewährung aus, verfällt auch das Charisma: Eine Erfahrung, die gerade US-Präsident Barack Obama durchlebt.

Vergleichbare Erfahrungen und Enttäuschungen sind Brandt und seinen Anhängern durch den Rücktritt im Mai 1974 erspart blieben. Anlaß war die Affäre um seinen Referenten Günter Guillaume, der sich als Agent der DDRStaatssicherheit herausstellte. Der noch immer nicht völlig aufgeklärte Vorgang, in dem auch der BND und innenpolitische Gegner zwielichtige Rollen spielten, wirkte wie der sprichwörtliche Dolchstoß, der den Helden zu Fall bringt. Er fügte Brandts Charisma eine tragische Komponente hinzu und sicherte ihm dadurch Dauerhaftigkeit.

Seine Kanzlerschaft hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits erschöpft. Die große Aufgabe: die Einleitung einer aktiven Ostpolitik, war erfüllt. Als er am 10. November 1989 in Berlin vor der geöffneten Mauer stand, leuchtete aus seinem zerfurchten Altersantlitz ein ungeteiltes Glücksgefühl.

Wer Willy Brandt auf den Antifaschisten und sozialen Reformpolitiker reduziert und seinen patriotischen Impuls verleugnet, macht sich einer vorsätzlichen Fälschung schuldig. Diese Versuche geschehen nicht zufällig. Liest man Brandts Redebeitrag in der Hauptstadt-Debatte des Bundestages vom Juni 1991 nach, dann erhält man den Eindruck, daß ihm nicht nur der Streit um die Alternative Bonn-Berlin, sondern überhaupt die Bundespolitik und ihr Bestreben, Deutschland überstürzt in einem nebulösen „Europa“ verschwinden zu lassen, längst als subalterne und provinzielle Veranstaltungen erschienen.

„In Frankreich wäre übrigens niemand auf den Gedanken gekommen, im relativ idyllischen Vichy zu bleiben, als fremde Gewalt der Rückkehr in die Hauptstadt an der Seine nicht mehr im Wege stand“, las er den Abgeordneten die Leviten.

Die Bundesrepublik war für Brandt ein Behelf, eine Durchgangsstation auf dem Weg zum vereinten Deutschland – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Diese Ikone ist in der Hauptsache weder sozial- noch bundesrepublikanisch, sie ist vor allem – deutsch.

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