© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Ein antifaschistischer Patriot
Der Mensch und Politiker Willy Brandt – porträtiert von seinem Sohn Peter
Herbert Ammon

Dem Ansinnen eines Buches über den Vater öffnete sich Peter Brandt, geboren 1948 während der Berliner Blockade, erst nach längerem Widerstreben. Jetzt, zum 100. Geburtstag des 1992 Verstorbenen, legt er ein als Essay deklariertes Buch vor. Darin nähert er sich dem Vater „mit anderen Augen“, das heißt aus zeitlicher Distanz, mit dem Blick des Fachhistorikers. Entstanden ist ein Werk, in dem in Kombination von Biographie und Autobiographie die gesamte Geschichtsdramatik des 20. Jahrhunderts hervortritt.

Peter Brandt schreibt aus linker, kapitalismuskritischer Perspektive – eine Haltung, die ihn von Jugend auf mit den sozialistischen Idealen des Vaters verband. Für einen Vater-Sohn-Konflikt bot selbst die linksradikale Episode von Brandt junior in den Jahren des Vietnam-Protests keinen Stoff. Anders als sein jüngerer, 1961 geborener Bruder, der Schauspieler Matthias Brandt, verspürte Peter keinen Mangel an Zuwendung seines von der Politik okkupierten Vaters. „Vermißt habe ich hauptsächlich die ausschweifenden Erzählungen der anderen Väter vom Krieg, wo sie sich je nach Temperament und Einstellung heldenhaft oder listig durchgeschlagen, dabei nicht selten – wie in Franz Josef Degenhardts Lied – abwechselnd den Iwan das Fürchten gelehrt und den Nazigenerälen in den Arsch getreten hatten ...“

Die Kollektivschuldthese lehnte Brandt immer ab

Willy Brandts Familienverhältnisse lagen bekanntermaßen außerhalb des ehedem bürgerlichen Rahmens. Wo der Sohn Familieninterna offenlegt und bespielsweise den Verfall der Ehe mit Mutter Rut notiert, so rückt er das Bild des Lebemanns und Frauenhelden Willy zurecht. Die spezifische Beziehung zum Vater wird sichtbar in der im Eingangskapitel „Krankheit und Tod“ beschriebenen Szene. Beim letzten Besuch in Unkel, wo der unheilbar krebskranke Brandt von seiner dritten Ehefrau Brigitte Seebacher-Brandt gepflegt wurde, kam der Vater zum Eingangstor und winkte ihm zu – was er sonst nie getan hatte.

Anschaulich schildert der Autor das hochpolitisierte, hauptsächlich von sozialistischen Freunden, oft jüdischer Herkunft, geprägte Umfeld seiner Kindheit und Jugend. Er spürte früh, was Brandt senior von manch anderen Emigranten (und Remigranten) unterschied: „Er fühlte sich durch Hitler zeitlebens beleidigt“, und zwar als antifaschistischer deutscher Patriot. Im Exil zu Stockholm traf Brandt, Kontaktmann des 20. Juli, noch am 23. Juni 1944 mit Adam von Trott zu Solz zusammen. Dessen mit der sowjetischen Botschafterin Alexandra Kollontai verabredetes Treffen kam dann aus Sicherheitsbedenken nicht zustande.

Ungeachtet aller Abscheu vor den NS-Verbrechen – das ganze Ausmaß erfuhr selbst Brandt als akkreditierter norwegischer Journalist erst beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozeß 1945/46 – lehnte er, anders als etwa die affektgeladene Erika Mann, die Idee einer Kollektivschuld ab. Vor und nach 1945 stellte er sich gegen den vordringenden Deutschenhaß, gegen den „Vansittartismus“ auf konservativer Seite, gegen die maßgeblich von Kommunisten betriebene Polemik auf der Linken. Aus solcher Haltung heraus schloß er in Berlin-Schlachtensee Freundschaft mit dem Reihenhausnachbarn, einem katholisch-konservativen Antinazi, der sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte.

„Ein Wort wie ‘Tätervolk’ wäre bei den Sozialdemokraten der Nachkriegsjahrzehnte auf völliges Unverständnis gestoßen, namentlich bei Willy Brandt.“ Auf die Abwehr von Kollektivverdammnis zielte auch Brandts für ein norwegisches Publikum bestimmte Schrift „Verbrecher und andere Deutsche“, um die sich später eine wüste Hetzkampagne entspann. Gerade weil er nach Rückkehr und Wiedereinbürgerung (1948) seinen einst NS-affizierten Generationsgenossen mit Nachsicht begegnete, empörten ihn die über Jahre hin – etwa durch den vom Mauerbau offenbar unberührten Adenauer im Wahlkampf 1961 – zugefügten Verletzungen. Zum schmutzigen Spiel gehörte die Kooperation eines österreichischen CSU-Journalisten mit Ost-Berlin.

Den jungen Herbert Frahm, nichtehelicher Sohn einer Lübecker „Konsum“-Verkäuferin, umfing das Milieu der sozialistischen Arbeiterbewegung. Als Ersatzvater fungierte ein wiederum nicht leiblicher Großvater. In dessen Bücherschrank waren Bücher wie August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ zu finden, kaum die marxistischen „Klassiker“. Von seinem nächsten Mentor, dem aus großdeutsch-demokratischer Tradition stammenden „rechten“ SPD-Reichstagsabgeordneten Julius Leber, trennte sich der junge Gymnasiast am Johanneum als Verfechter eines revolutionär-sozialistischen Kurses – ein Detail, das einen Satz mehr verdient hätte. Der nom de guerre Willy Brandt taucht erstmals bei einem Dresdner Geheimtreffen der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) – die 1931 abgespaltene Gruppe hatte mit einer linken „Einheitsfront“ den Durchbruch der NSDAP verhindern wollen – im Februar 1933 auf.

Als „Jugendsünde“ wollte Brandt seine linksradikale Vergangenheit später nicht sehen. Ähnlich hielt er an der Vorstellung fest, ein Sieg über Franco im Spanischen Bürgerkrieg hätte die große Kriegskatastrophe 1939 bis 1945 abwenden können. Als Zeuge des blutigen Schauspiels, das er seit Februar 1937– etwa zeitgleich mit George Orwell – im Auftrag der norwegischen Arbeiterpartei beobachtete, neigte er dazu, die mörderischen Spaltungen im republikanischen Lager zu unterschätzen.

Die Desillusionierung setzte erst mit dem Hitler-Stalin-Pakt (23. August 1939) ein. Im norwegischen und schwedischen Exil, wo ihn das inmitten der Weltwirtschaftskrise errichtete folkhem beeindruckte, wandelte sich Brandt zum linken Pragmatiker. Zum Leitbegriff wurde der in einer Stockholmer Friedensdenkschrift proklamierte„demokratische Sozialismus“.

Brandts Kampfjahre in Berlin, zunächst als junger Mann Ernst Reuters, gegen die Parteilinken um Franz Neumann sind heute vergessen. Sein Name steht für die „Neue Ostpolitik“ und die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn. Beides entsprang nicht reiner Friedensliebe, sondern politischer Notwendigkeit angesichts der Mauer. „Die Westalliierten, namentlich die USA, verhielten sich so, wie sie ihre eigenen Interessen definierten.“ Die maßgeblich vom „linken Deutschnationalen“ Egon Bahr konzipierte Strategie zielte auf Überwindung des Status quo (Fernziel Wiedervereinigung) durch Anerkennung der Realitäten. Dazu gehörte der faktische Verzicht auf die Ostgebiete, wenngleich Brandt senior noch lange eine zumindest symbolische Revision „um einige hundert Quadratkilometer westlich der Oder“ für möglich und richtig hielt.

Stolz über die Leistungen des deutschen Volkes

Die Szene des vor dem Warschauer Ghetto-Denkmal knienden deutschen Bundeskanzlers am 7. Dezember 1970 deutet Peter Brandt als „eine zutiefst christliche, genauer: abendländisch-christliche Geste des Kniefalls“. Der nur an Heiligabend in der Kirche anzutreffende Agnostiker Willy Brandt war kein Atheist. Das Selbstverständnis des Vaters – und implizit das eigene – umreißt der Sohn gegen Ende des Buches. Es „beruhte auf einer die negativen wie die positiven Aspekte der deutschen Geschichte einschließenden Identifikation mit der Nation der Deutschen – eine Identifikation, die neben Abscheu auch die Scham kannte über die Verbrechen, die von Deutschen (nicht von den Deutschen) im deutschen Namen verübt worden waren, aber auch Stolz über die kulturellen und zivilisatorischen Leistungen des deutschen Volkes, seine humanistischen und freiheitlichen Traditionen und seinen Wiederaufstieg sowie seine demokratische Läuterung nach 1945, verbunden mit begründeten Hoffnungen auf eine im Sinne der sozialdemokratischen Grundwerte gestalteten Zukunft.“

Willy Brandt – fraglos eine der großen Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts, nicht nur der deutschen Geschichte. Ob er noch in die „postmoderne“ – und postnationale – Gegenwart passen würde, sei als Frage dahingestellt. „Im Unterschied zu manch anderen, die genau zu wissen glauben, wie Willy Brandt dachte, bin ich nicht sicher, ob er die außereuropäische Massenzuwanderung der letzten zwanzig Jahre durchweg positiv beurteilt hätte.“

Fotos: Willy Brandt mit Sohn Peter 1961 auf dem Berliner Schlachtensee: Kindheit ohne Landsergeschichten, Willy Brand 1933 in Oslo: Revolutionär

Peter Brandt: Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2013, gebunden, 280 Seiten, 24,90 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen