© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/13 / 13. Dezember 2013 u. 01/14 / 20. Dezember 2013

Keine wichtige Feindorganisation
Ein aktuelles Gutachten über die Stasi-Aktivitäten gegenüber dem Bundestag in Bonn
Detlef Kühn

Dem Deutschen Bundestag gehörten von 1949 bis 1989 insgesamt 2.190 Abgeordnete an. Es kam vor, daß der eine oder andere von ihnen der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) verdächtigt oder gar überführt wurde. Der SPD-Abgeordnete Alfred Frenzel war von 1956 bis 1960 für den tschechoslowakischen Geheimdienst tätig. An Gerüchten fehlte es nie. Man ging von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Nach ersten Veröffentlichungen in den neunziger Jahren sprach man sogar von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS in „Fraktionsstärke“ im Bundestag.

Es dauerte etwa zwanzig Jahre, bis die Hinterlassenschaft des MfS systematisch auf Spuren der Bearbeitung von Bundestagsabgeordneten oder ihres Umfeldes durch das MfS durchgesehen werden konnte. Das Ergebnis liegt nun vor. Es ist schon vom Umfang her eindrucksvoll, bringt viele Informationen über die West-Arbeit des MfS und ist gerade deshalb geeignet, die oft ins Kraut schießenden Mutmaßungen über MfS-Erfolge auf eine sachliche Grundlage zu stellen. Ein abschließendes Urteil ermöglicht aber auch diese Publikation, die weitgehend auf der Sachkenntnis und dem Fleiß von Georg Herbstritt beruht, noch nicht.

Zuerst einmal die wichtigsten Fakten: Es geht explizit nicht um Abgeordnete, die erst nach 1990 dem Bundestag angehörten. Für die Zeit davor werden neun Abgeordnete namhaft gemacht, denen eine bewußte und gewollte Tätigkeit als IM der HVA oder ihrer Vorläufer nachgewiesen werden kann. In zeitlicher Abfolge: Otto Graf (SPD), Karlfranz Schmidt-Wittmack (CDU), Anton Donhauser (CSU), Josef Braun (SPD), William Borm (FDP), Gerhard Flämig (SPD), Julius Steiner (CDU), Karl Wienand (SPD) und Dirk Schneider (Grüne). Bis auf Graf waren sie alle schon bekannt.

Dem ersten Bundestag (1949–1953) gehörten auch, mit Nachrückern, 18 gewählte Kommunisten an. Sie galten als Sprachrohr der SED, waren politisch und gesellschaftlich isoliert und durften nur im Haushaltsausschuß mitarbeiten. Einige von ihnen hatten einen nachrichtendienstlichen Hintergrund aus der „Partei-Aufklärung“ der KPD. Tragisch war das Schicksal ihres Abgeordneten Kurt Müller, der 1950 in die DDR gelockt und verhaftet wurde. Er wurde mit absurden Vorwürfen überzogen und bis 1955 in der Sowjetunion inhaftiert. Mit den letzten deutschen Kriegsgefangenen kehrte er nach Westdeutschland zurück. Müller war ein Opfer des Stalinismus.

Im Laufe der Jahrzehnte gerieten zahlreiche Abgeordnete in das Blickfeld des Staatssicherheitsdienstes. Soweit sie durch das MfS bearbeitet wurden, war dies meist Aufgabe der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA). Ihr wurde es 1990 gestattet, sich selbst aufzulösen, wobei praktisch alle Akten vernichtet wurden. Nur in beschränktem Umfang ist es später gelungen, durch SIRA, das „System der Informationsrecherche der HVA,“ für die Zeit ab 1970 zu rekonstruieren, welche Informationen über Abgeordnete gesammelt wurden. In diesem Zeitraum gingen 5.599 Informationen bei der HVA ein, die rund 760 Abgeordnete betrafen (viele mit Mehrfachnennungen). Die meisten Informationen gingen ein zu Hans Dietrich Genscher (1.911), gefolgt von Franz Josef Strauß (1.766), Willy Brandt (1.624), Helmut Kohl (1.513) und Helmut Schmidt (1.477). Für viele Abgeordnete lagen – wenn überhaupt – in dieser Zeit nur Informationen im ein-, höchstens zweistelligen Bereich vor. Erstaunlich viele Abgeordnete werden in SIRA überhaupt nicht erwähnt.

Dieser Umstand hängt damit zusammen, daß das MfS – wegen ideologischer Engstirnigkeit – den Bundestag nicht als wichtige Feindorganisation wahrnahm. Die Fraktionen des Bundestages waren für die Staatssicherheit nur Anhängsel der jeweiligen Parteien. Abgeordnete wurden vor allem durch ihre Parteifunktionen interessant. Dies läßt sich an der Zahl der Dissertationen und Diplom-Arbeiten ablesen, die Absolventen der „Juristischen Hochschule“ des MfS in Potsdam dem Bundestag widmeten: Es sind null. „Eine eigenständige MfS-Forschungsarbeit über Rolle, Bedeutung und gegebenenfalls Unterwanderungsmöglichkeiten des Bundestages gibt es nicht“, heißt es lapidar in dem Gutachten (selbst einer längst vergessenen Bundesbehörde wie dem Gesamtdeutschen Institut wurden dagegen mindestens zehn Arbeiten dieser Art gewidmet). Dennoch fehlte es nicht an Plänen und Versuchen des MfS, auch Bundestagsabgeordnete anzuwerben (und nicht nur ihre Mitarbeiter, was relativ häufig gelang).

Das Gutachten bringt exemplarisch Untersuchungen über einige Organisationseinheiten des Bundestags: Haushaltsausschuß, Verteidigungsausschuß, Auswärtiger Ausschuß sowie drei Sonder- und Untersuchungsausschüsse. Aus dem Innenleben der Fraktionen werden die Arbeitskreise der FDP-, SPD- und CDU/CSU-Fraktion sowie der Fraktion der Grünen, die sich mit Außen-, Deutschland- und Verteidigungspolitik beschäftigten, besonders untersucht. In diesen Gremien war das MfS bestens vertreten, sei es durch MdB wie William Borm und Dirk Schneider oder auch durch Fraktionsmitarbeiter oder Angestellte von Abgeordneten. Ein ständiger Informationsfluß war gewährleistet.

Man hat den Eindruck, daß die von dem Bundesbeauftragten verwaltete Hinterlassenschaft des MfS allmählich an die Grenzen ihrer historiographischen Aussagekraft stößt. Das bedeutet aber nicht das Aus für weitere Forschungen, wie der Fall des CSU-Abgeordneten Leo Wagner zeigt. Wagner gehörte dem Bundestag von 1961 bis 1976 an. Als Parlamentarischer Geschäftsführer hatte er erheblichen Einfluß. Seit 1965 war er bei der HVA erfaßt; seit 1975 gab es für ihn einen IM-Vorgang „Löwe“.

Auch nach Beendigung seiner Tätigkeit im Bundestag wurden Informationen durch die HVA registriert. Es ist nicht sicher, ob er selbst wissentlich geliefert hat oder nur durch einen westdeutschen Journalisten abgeschöpft wurde. Wagners politische Bedeutung liegt darin, daß gewichtige Indizien vorliegen, wonach er 1972 im Zusammenhang mit dem gescheiterten Versuch, Bundeskanzler Willy Brandt abzuwählen, ebenso wie der (geständige) CDU-Abgeordnete Julius Steiner aus Mitteln des MfS 50.000 Mark erhielt, damit er seine Stimme bei der Abstimmung dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel verweigert.

Das Mißtrauensvotum von 1972 beweist, daß das MfS auch ohne IM-Verpflichtung über Mittelsmänner mit korrupten Politikern zu kooperieren wußte. Deshalb legt das Gutachten der zeitgeschichtlichen Forschung nahe, verstärkt auch Quellen aus anderen Archiven des Bundes oder der politischen Parteien, Kirchen und Gewerkschaften heranzuziehen, um etwa die Bedeutung östlicher Einflußagenten besser beurteilen zu können.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.

Der Deutsche Bundestag 1949 bis 1989 in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Berlin 2013, broschiert, 397 Seiten, Schutzgebühr 5 Euro

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