© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/13 / 13. Dezember 2013 u. 01/14 / 20. Dezember 2013

Wie Osteuropa unter die Knute Stalins kam
Anne Applebaum untersucht die Etablierung des Sowjetsystems in den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Anhand vieler erstmals zugänglicher Quellen und unzähliger Gespräche mit Zeitzeugen beschreibt die mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Historikerin Anne Applebaum recht detailliert, mit welchen Methoden der Kreml nach deren Besetzung in den osteuropäischen Ländern die Sowjetisierung durchführte. Der Sieg der UdSSR, die allgemeine Friedenssehnsucht nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch der politisch-moralische Zusammenbruch 1945 weckte bei manchen Menschen eine gewisse Sympathie für den Kommunismus.

Für die allgemeine Bevölkerung aber war diese Zeit nach den Worten der Verfasserin „nur der brutale Beginn einer neuen Besetzung“. Sie erinnert dabei an die mutwilligen Zerstörungen, Plünderungen und Massenvergewaltigungen – selbst an Russinnen, die die Konzentrationslager überlebt hatten. Schon bald überwog das Mißtrauen gegen die Sow-jetunion und alle kommunistische Propaganda. Ohnehin erinnerte man sich an die Besetzung Ost-Polens 1939 sowie die Massenmorde an polnischen Offizieren in Katyn. Unvergessen blieb, daß Stalin die während des Krieges annektierten Gebiete Ost-Polen, Karelien, das Baltikum, Bukowina und Bessarabien nie zurückgab: Sie wurden der UdSSR eingegliedert. Die allzu laue Haltung der Westalliierten verschweigt das Buch dabei keineswegs.

Das Vorgehen der Sowjets erfolgte stets nach dem gleichem Schema: Der sofortige Aufbau einer Geheimpolizei, die stets nur der KP-Führung im jeweiligen Land verantwortlich war, niemals aber der Regierung. Ihre Spitzenfunktionäre waren während ihrer sowjetischen Emigration völlig „linientreu“ geworden. Im Gegensatz zu Zeitungen war das Radio von Anfang an ein pro-sowjetisches Monopol.

Anfangs vermieden die Kommunisten „die Diktatur des Proletariats“, sondern sprachen von Demokratie und Bündnissen mit nichtkommunistischen Parteien; bei Regierungsbildungen erhielten sie mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht indes stets die Schlüsselpositionen. Bekanntes Beispiel ist Walter Ulbricht, der noch während der letzten Kämpfe in Berlin direkt aus Moskau kam. Die Behauptung, das treffe auch auf Honecker zu, ist allerdings falsch. Zumindest am Anfang wollte Stalin den Schein der Wahlfreiheit wahren, Wahlfälschungen in jedem Ostblock-Staat sorgten für „richtige“ Ergebnisse.

Kommunisten bezeichnen sich als „Internationalisten“, tatsächlich hat niemand mehr als Stalin nationale Konflikte für seine Ziele ausgenutzt. Früh befahl er Terrorwellen gegen ethnische Minderheiten im eigenen Land, darunter Polen, Krimtataren, Wolgadeutsche und zuletzt auch Juden. Nach Kriegsende kam es zu einer Vertreibung von über einer Million Polen aus der Ukraine und umgekehrt mehrere Hunderttausend Ukrainern aus Polen; ein ähnliches Schicksal erlitten tschechische und slowakische Ungarn. Die Zahl der vertriebenen Deutschen gibt die Verfasserin mit über zehn Millionen an, die Aktion erfolgte unter kommunistischer Führung und fand viel Beifall bei den auf Rache sinnenden Einheimischen.

1948 mußten die Kommunisten, die an ihren Sieg bei Wahlen geglaubt hatten, feststellen, daß ihr Versuch gescheitert war, die Macht friedlich zu erreichen. In Prag schaffte ein Staatsstreich vollendete Tatsachen. Bulgarien löste alle nichtkommunistischen Parteien auf, den Oppositionsführer ermordete man. In Ungarn sorgten „Volksgerichte“ für die Ausschaltung Andersdenkender. In der deutschen Ostzone urteilten sowjetische Militärgerichte. Die Inhaftierung politischer Gefangener fand in bisherigen deutschen Konzentrationslagern statt, wo etwa jeder Dritte umkam. Teilweise wurden sie nach Sibirien verschleppt.

Ein verzerrtes Bild zeichnet die Autorin von der Verschmelzung der SPD und KPD zur SED. Augenzeugen sehen manches anders. Recht plastisch erlebt der Leser überall die Bodenreform, dann die Kollektivierung und ab 1947 nach Sowjetvorbild mehrjährige Wirtschaftspläne, deren Ziele sich zumeist als unrealistisch erwiesen. Entscheidend war die Verstaatlichung der Schwerindustrie, zumal nach kommunistischer Ideologie jeder Industriearbeiter den Kommunismus unterstützen würde. Nach sowjetischen Planungen entstanden in mehreren Ostblockstaaten „Idealstädte“ wie „Stalinstadt“ (das heutige Eisenhüttenstadt) in der DDR, die um die Fabrik herum gebaut wurden. Die utopische Propaganda stand indes der nicht selten katastrophalen Realität des Alltags gegenüber, oft waren die entstehenden Kosten überhaupt nicht eingeplant.

Stalin glaubte, kommunistische Propaganda und Erziehung könnten den menschlichen Charakter völlig verändern, so daß die Schaffung eines homo sovieticus möglich sei. Tatsächlich konnte man im Ostblock nur schwer unpolitisch sein oder eine schweigende Neutralität bewahren. Die Frage, wieso so viele Menschen zum Mitmachen zu bewegen waren, wird vom Buch in der geistig-moralischen Erschöpfung der verschiedenen Opfer des Krieges gesehen, zum anderen im sehr bald einsetzenden Terror und nicht zuletzt in der ständigen Propaganda, welche die kommunistische Diktatur als „ewig“ erscheinen ließ. Andere wurden durch Bestechung gewonnen wie gutdotierte Positionen, exklusive Villen oder auch bessere Versorgungsmöglichkeiten.

Die Behauptung, der Totalitarismus im Ostblock sei im wesentlichen durch das Volk unterstützt, überschätzt Applebaum. Die Untätigkeit des Westens und dortige Freunde des Kommunismus wie etwa Jean-Paul Sartre oder auch Pablo Picasso haben gewiß mehr Einfluß auf die Legitimität der Diktatur gehabt.

Die Ursache der Niedergangs des Kommunismus? Nach Ansicht der Autorin trugen die kommunistische Ideologie und die marxistisch-leninistischen Wirtschaftstheorien schon den Keim ihrer eigenen Zerstörung in sich. Hatte der „wissenschaftliche“ Marxismus zukünftigen Wohlstand sowie hohen Lebensstandard garantiert und die Propaganda von immer schnellerem Wachstum gesprochen, so wurde die Kluft zwischen Wirklichkeit und Ideologie nur immer größer …

Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956. Siedler Verlag, München 2013, gebunden, 641 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro

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