© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/13 / 13. Dezember 2013 u. 01/14 / 20. Dezember 2013

Der Flaneur
Alles ist heute öffentlich
Paul Leonhard

Der Doktor neben mir trägt einen slawischen Namen und arbeitet für ein namhaftes Unternehmen. Das hat Probleme mit einer neuen Fertigungsserie. Ein Herr XY scheint recht zu haben mit seiner Analyse, schreibt er. Beschämt wende ich den Kopf ab. Ich habe mitgelesen, was er da neben mir in sein Notebook hämmert. Andererseits ist es interessant. Die schönsten Geschichten erfährt man im Zug. Ich kann mich noch gut an den Manager erinnern, der im ICE erregt seinem Telefonpartner erzählte, welche Entwicklungen er befürchtet, wenn der Aufsichtsrat tatsächlich ...

Sieben Mitreisende sind es diesmal. Einer schläft röchelnd mit halboffenem Mund, drei lesen, die anderen tippen in ihre Notebooks. Auf dem des Doktors steht „Fujitsu“ in silberfarbener Schrift. Der Doktor trägt dazu ein kleinkariertes Hemd und Sakko. Auf dem Laptop des anderen leuchtet ein angebissener Apfel. Sein Besitzer hat ein Star-Trek-Shirt an und große Kopfhörer auf, der dritte ein Tableout-Notebook vor sich.

Bis auf den sanft Schlafenden herrscht Büroatmosphäre. Niemand schaut auf die rauhreifbedeckten Felder, die aschfahlen Wiesen und dunklen Wälder, die vorbeihuschen. Auch nicht auf die Endzwanzigerin. Schwarze Haare, enge Jeans, schwarze Bluse, Silberkette. Das iPad liegt auf ihrem Schoß. Ich registriere die Warze auf dem Zeigefinger der rechten Hand, mit der sie tippt. Ihr Gesicht verrät, wenn sie leidet, wenn sie nachdenkt. Da, sie scheint eine Lösung gefunden zu haben. Ein zufriedenes Lächeln scheint auf.

Kurz fiept es. Die Frau fingert das Handy aus ihrer Tasche. Als sie die Nummer sieht, zucken die Mundwinkel. Sie drückt auf eine Taste, steht auf: „Ja?“ Sie lauscht. „Bringst du gleich noch Brot mit?“ Sie runzelt die Stirn. „Ich habe doch gesagt, daß ich im Zug bin.“ Das klingt gereizt. Mit wem telefoniert sie wohl, mit der Mutter, dem Mann, der Mitbewohnerin? „Gut, bis gleich.“ Sie hat aufgelegt. Der Zug hält. Die Laptops werden eilig zugeklappt, alles drängelt nach draußen. Feierabend.

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