© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

„Jede Partei sollte sich blamieren dürfen“
Europawahl: Karlsruhe verhandelt über Dreiprozenthürde
Taras Maygutiak

Für die kleinen Parteien, die wegen der jüngsten Änderung des Europawahlgesetzes nach Karlsruhe gezogen sind, drängt die Zeit. Seit dem Oktober des abgelaufenen Jahres heißt es dort in Paragraph 2 Absatz 7, daß nur diejenigen Parteien und politischen Vereinigungen bei der Verteilung der Abgeordnetensitze zum Europäischen Parlament berücksichtigt werden, die mindestens drei Prozent der Wählerstimmen erreicht haben.

Dagegen haben die NPD, die islamkritische Partei Die Freiheit, die ÖDP, die Freien Wähler, die christliche AUF-Partei, die Piratenpartei sowie ein Bündnis von zehn kleineren Parteien geklagt. Der Verein Mehr Demokratie teilt die Kritik an dem Gesetz und hatte ebenfalls Klage eingereicht. Am 18. Dezember lud der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zur mündlichen Verhandlung.

Die Besonderheit des Verfahrens liege darin, daß Karlsruhe erst am 9. November 2011 die bis dahin geltende Fünfprozentklausel bei den Europawahlen für unvereinbar mit den Artikeln 3 und 21 des Grundgesetzes erklärt hatte, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in seiner Einführung: „Die neue Dreiprozent-Sperrklausel stellt sich insofern als Reaktion auf dieses Urteil dar.“ Anfang Juni 2013 hatten die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen den Entwurf zur Änderung des Gesetzes in den Bundestag eingebracht und später gemeinsam beschlossen.

Voßkuhle ging in seiner Einführung noch einmal auf das Urteil des Senats vom November 2011 ein und hob die Begründung hervor, weshalb die Fünfprozenthürde seinerzeit gekippt worden war. Jede Sperrklausel sei ein Eingriff in die Wahlrechts- und Chancengleichheit der politischen Parteien. „Dieser Eingriff kann aufgrund bestimmter rechtlicher und bestimmter tatsächlicher Verhältnisse gerechtfertigt sein“, so Voßkuhle.

Eine Rechtfertigung habe das Gericht allerdings bei der Fünfprozentklausel verneint. Es sei nicht erkennbar gewesen, daß die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments ohne Sperrklausel beeinträchtigt werde. Zum anderen könne – anders als bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag – keine Situation eintreten, in der das Parlament aufgrund politischer Zersplitterung nicht mehr in der Lage sei, die wahlgesetzlichen Regelungen zu ändern, da das Wahlrecht eben nicht durch das Europäische Parlament selbst, sondern durch den Deutschen Bundestag bestimmt werde.

Bei den Klagen gegen die Dreiprozent-Sperrklausel komme es nun darauf an, zu prüfen, inwieweit diese sich in ihren Auswirkungen von einer Fünfprozenthürde unterscheide und ob sich die rechtlichen und tatsächlichen Umstände seit dem Urteil vom November 2011 geändert hätten, faßte der Gerichtspräsident zusammen. Kritiker des Urteils zum Wegfall der Fünfprozent-Sperrklausel hatten moniert, Karlsruhe habe die Arbeit des Europäischen Parlaments nicht angemessen gewürdigt. Dieser Kritik trete er entschieden entgegen, betonte Voßkuhle: „Davon kann keine Rede sein.“

Den Vertretern des Antragsgegners, des Bundestages, blies der Wind der Prozeßbevollmächtigten der kleinen Parteien von Anfang an heftig entgegen. „Es wird eine Rechtsfrage erläutert, die aus Sicht der Antragsteller und Beschwerdeführer bereits entschieden ist“, monierte Rechtsanwalt Peter Richter, der die NPD vertritt: „Geändert hat sich seit dem Urteil 2011 nichts – weder rechtlich noch tatsächlich.“

Ins gleiche Horn stieß Sascha Giller, der Die Freiheit rechtlich vertritt: „Heute stehen wir wieder hier bei unveränderter Sachlage.“ Eine Dreiprozenthürde bewirke, daß Stimmen der kleinen Parteien vollständig entwertet würden. Er sehe die Gefahr eher darin, daß durch die Sperrklausel die Politikverdrossenheit zunehme. Schmunzeln und Lacher verbuchte der rechtliche Vertreter der Piratenpartei und der Satire-Partei Die Partei, Tim Christian Werner, für sich: „Es sollte jede Partei die Gelegenheit bekommen, sich vor dem Wähler zu blamieren“, forderte er.

Die Argumentation der Kläger-vertreter war in vielen Punkten deckungsgleich. Die Gefahr, daß es wegen zu vieler kleiner Parteien zu einer Zersplitterung des Parlamentes kommen könnte – damit hatten die Bundestagsfraktionen ihre Änderung des Gesetzes ebenfalls begründet –, wiesen sie unisono zurück. Schließlich säßen bereits jetzt rund 160 Parteien im Europäischen Parlament. Auch die Begründung, „es gebe im Parlament eine gestiegene Bedeutung stabiler Mehrheiten wegen der neuen Modalitäten für die Wahl der Europäischen Kommission im Vertrag von Lissabon“, wiesen die Kläger allesamt mit einer Feststellung zurück: „Entweder es gibt Mehrheiten, oder es gibt keine.“

Die Argumente des Bundestags-Prozeßbevollmächtigten Christofer Lenz klangen vergleichsweise dünn: „Die anderen Länder haben auch eine Dreiprozentklausel.“ Zudem warf er den kleinen Parteien vor, sie würden nur klagen, weil sie befürchteten, nicht ins Parlament einziehen zu können: „Die AfD traut sich die drei Prozent offensichtlich zu – die sitzt nicht im Saal.“ Prüfen will der Zweite Senat in dem Verfahren, ob es sich bei der Gesetzesänderung um eine „unzulässige Normwiederholung“ handelt, da die aufgehobene Sperrklausel jetzt wieder in neuem Gewande auftaucht. Die Richter stehen bei ihrer Entscheidung unter Zeitdruck: Bereits am 25. Mai steht die Europawahl an.

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