© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

Pankraz,
Georg Cantor und der Weg in die Grautöne

Als der berühmte Bühnenbildner und -ausstatter Heinrich Kilger einst zu Bert Brecht kam und ihn fragte, ob er für die Ausstattung seines neuen Stücks besondere Farbkompositionen im Sinne habe, antwortete dieser: „Mir ist jede Farbe recht, wenn sie nur grau ist.“ Sollte wohl heißen: Das Bühnenbild muß der im Text intendierten „unverschminkten Realität“ so genau entsprechen wie möglich. Im wirklichen Leben gibt es keine reinen, allein aus sich selbst leuchtenden Farben, alles durchdringt sich hier gegenseitig, und der Generalton, der am Ende herauskommt, ist immer ein (variantenreiches) Grau.

Wahrscheinlich wird das neue Jahr 2014, wagt Pankraz vorauszusagen, ein echtes Jahr der Grautöne werden, wo man reinen Farben allenfalls noch in einigen Kunstausstellungen begegnen kann. Ob Politik oder Literaturbetrieb, Talkmasterei oder Popsingerei, öffentliches oder privates Sprechen – überall wird es kaum noch um Entweder-Oder gehen, sondern nur noch um Sowohl-Als-auch. Die Politik der großen Koalition wird den Taktstock dazu schwingen; man wird sich auf vielen halben Wegen entgegenkommen und das jeweils als großen Erfolg feiern.

Das muß nicht unbedingt ein Nachteil sein! Natürlich stimmt es: Grautöne sind weniger schön als klare Farben, und bei wissenschaftlichen Erkundungen kommt es in der Regel zunächst einmal auf das scharfe Herausarbeiten real vorhandener Differenzen an. Aber gerade viele Wissenschaftler, besonders die sogenannten „Fuzzy-Logiker“ (von engl. fuzzy = ausgefranst), warnten in der letzten Zeit immer häufiger vor einem Übermaß an „Digitalisierung“ in den öffentlichen, vor allem in den lebenspraktischen Diskursen.

Die technische Großtat dieser Digitalisierung, nämlich die Eindampfung unzähliger Phänomene auf Entweder-Oder-Module und deren ungeheure Vermehrung,Verkleinerung und Plazierung auf winzigen, nur millimetergroßen Chips, sei ein Pyrrhussieg gewesen. Die Digitalisierung habe sich durch die technische Entwicklung gewissermaßen selbst widerlegt. Und der Versuch, ihre Methoden allumfassend auf genuin geistige, künstlerische oder gar politische Vorgänge anzuwenden, berge schwerste Verluste in sich.

Zwar sei es nun möglich geworden, mit Effizienz auf feinste Graduierungen der wirklichen Welt zu reagieren und sie teilweise in sehr präzise und vor allem ressourcensparende Handlungsanleitungen umzusetzen, doch der Preis für alle diese schönen Sachen sei eben der Abschied der Digitalisierung von sich selbst gewesen, Mit „digitalen“ Modulen zu operieren, heiße ja längst, sich in allerfeinsten Nuancen einzurichten und die Realität als eine unendliche Skala von Grautönen zu akzeptieren.

Zahllose technische Systeme funktionieren tatsächlich nur noch fuzzy: Klimaanlagen, Waschmaschinen, Wasser-Aufbereitungsanlagen, Müll-Verbrennungsanlagen und, und, und. In neuen Autos sind bereits bis an die zweihundert Chips eingebaut, die alle möglichen Vorgänge nach Fuzzy-Logik steuern und optimieren. Und die einschlägige Theorie hat sich der neuen Lage inzwischen voll angepaßt.

Sie ist zur Mengenlehre geworden. Die „Mengen“, die Georg Cantor (1845–1918), der Schöpfer dieser Mengenlehre und Urvater der Fuzzy-Logik, einst markiert hat, waren weder bloße Zahlen noch sonstwie homogene Einheiten, sondern bloße „Muster“, d.h. Einheiten mit unscharfen Grenzen, wie etwa der heute so wichtig gewordene Begriff „kühle Luft“: ein „vages Konzept“ nur noch, dessen Bedeutung mit den Sprechern und sogar bei demselben Sprecher mit der Zeit variiert. „Kühle Luft“ hat eine unendliche Menge von Bedeutungen – und bildet dennoch eine Einheit. Auf genau solche Konstellationen hat sich die neue Technik eingestellt.

Und das gilt nicht nur für die „grobe“, primäre Technik der Maschinen und elektrischen Schaltkreise, sondern nicht minder und in verstärktem Maße für die „lebendige“ Technik biologischer und gehirnlicher Vorgänge. Mit deren Mengen kann man nicht einfach „rechnen“, sondern man muß sie ständig zu optimieren suchen, so wie sich ein neuronales System im Gehirn ständig optimiert. Man kann das auch als „Lernen“ bezeichnen. Die neue technische Logik arbeitet nicht mit ein für allemal festgelegten Regeln, sondern sie „lernt“, ihre Arbeit besteht vorzüglich im Lernen, im Erkennen von Mustern.

Vor allem auch die Politik sollte endlich auf die neue Erkenntnislage reagieren: ihre öffentliche Rhetorik ist noch voll auf simple Digitalität abgestellt. Die entsprechende Realität indessen sieht stets ganz und gar anders aus. Man nehme nur den Begriff „moderner Krieg“! In der Rhetorik pompöses Entweder-Oder-Gehabe, Freund oder Feind, in der Realität hingegen „Smart War“, nämlich lupenreines Sowohl-Als-auch. Jede kriegerische Aktion oder Reaktion nur noch eine Frage der prozentualen Anteile. Alles geht ineinander über: Angriff und Verteidigung, Terror und Terror-Abwehr, Töten und Tötenlassen.

Aber die verantwortlichen politischen Kräfte operieren zuallermeist immer noch wie Neandertaler im Feinkostgeschäft, als hätten sie nicht das geringste Gespür für Nuancen. Und sie haben wohl oft auch wirklich keine Ahnung, nicht nur im Krieg, sondern auch (und sogar noch mehr) mitten im Frieden, etwa bei simplen Koalitionsvereinbarungen. Hier die öffentlichen Schaukämpfe, monatelang höchst kostenträchtig und bis zur allgemeinen Überlangeweile dargeboten, dort der – wie man früher gesagt hätte – Zigarettenqualm aus den Hinterzimmern, verbissene Abgleichung der Grautöne.

Bert Brecht und Heinrich Kilger hätten sich angesichts des Qualms aus den Hinterzimmern mit Sicherheit sehr amüsiert. Aber was ist mit den heutigen politischen Groß-Amateuren in Berlin? Ob ihnen ihr Qualm wenigstens etwas genutzt hat? Man darf daran zweifeln. Beim Umgang mit Grautönen müßten sie ja erst einmal tüchtig lernen. Aber lernen wollen sie längst nicht mehr. Cantor, hilf!

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