© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

Die geliebte Kriegsschuld
Seit fünfzig Jahren forscht die Geschichtswissenschaft nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs: Fritz Fischers heute überholte Thesen aus den sechziger Jahren sind jedoch zählebig
Dag Krienen

Im Jahr 1961 schrieb Joachim Fernau eine populäre Geschichte des antiken Griechenlands („Rosen für Apoll“). Das Kapitel über den großen Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) leitete er mit dem lakonischen Satz ein: „Da es Deutschland noch nicht gab, kann man schwer sagen, wer schuld hatte.“ Fernau war nicht entgangen, in welche Richtung der Zeitgeist zu wehen begonnen hatte. Aufhalten konnten ihn seine Sarkasmen nicht mehr.

Ebenfalls im Jahre 1961 veröffentlichte ein bis dato selbst in Fachkreisen wenig in Erscheinung getretener Hamburger Historiker namens Fritz Fischer (1908–1999) eine voluminöse Studie mit dem Titel „Der Griff nach der Weltmacht“. Fischer glaubte anhand der nach Kriegsausbruch 1914 entwickelten deutschen Kriegsziele nachweisen zu können, daß die Reichsleitung 1914 eine erhebliches Maß an Mitverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Europas „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan), trug.

Über die sich anschließende sogenannte Fischer-Kontroverse ist in dieser Zeitung bereits mehrfach berichtet worden (JF 40/98, JF 50/99, JF 33/04). 1961 stand allerdings eine Revision der Forschung zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchaus an. Zu diesem Zeitpunkt orientierten sich die meisten Forscher noch an dem bequemen Diktum des englischen Politikers Lloyd George, wonach „keiner der führenden Männer jener Zeit (...) den Krieg wirklich gewollt“ hätte, sondern sie alle aufgrund der Zwänge der Mächtelogik und der Bündnissysteme in ihn „hineingeschlittert“ seien. Fischer benannte nun wieder konkrete Verantwortliche für die Eskalation im Sommer 1914, allerdings nur auf deutscher Seite.

Die damalige deutsche Historikerzunft nahm diese Herausforderung an. Daß es eine deutsche Mitverantwortung für den Kriegsausbruch gab, wurde von Fischers Widersachern wie Gerhard Ritter und Egmont Zechlin nicht geleugnet. Nur beschrieben sie die Motive der Verantwortlichen als defensiv, als eine fast schon verzweifelte Bereitschaft zum Kriegsrisiko im Sinne eines Prävenire, um aus einer lebensbedrohlichen außenpolitischen Sackgasse zu entkommen. Fischer hatte hingegen unterstellt, daß die deutschen Eliten aggressiv eine imperialistische Machterweiterung anstrebten und zu diesem Zweck auch einen großen Krieg in Kauf zu nehmen bereit waren.

Im Verlaufe der sechziger Jahre verschärfte er seine Thesen noch. Im 1969 erschienenen „Krieg der Illusionen“ glaubte er nach weiteren Archivfunden sogar beweisen zu können, daß Wilhelm II. und seine Militärs bereits im Dezember 1912 übereingekommen wären, im Sommer 1914 einen großen Krieg zur Erlangung der Weltmachtstellung zu entfesseln. Hatte er 1961 noch davon gesprochen, daß die deutsche Führung einen großen Anteil an der Verantwortung hatte, sah Fischer den Weltkrieg nun als ein längerfristig verfolgtes Ziel der Reichsleitung an. Deutschland war vom Mitverantwortlichen zum Alleinschuldigen geworden.

Diese Radikalisierung hatte vermutlich mehrere Ursachen. Daß er Abbitte zu leisten versuchte für seine NS-Vergangenheit vor 1945, die im Detail allerdings erst nach seinem Tod durchleuchtet wurde, trug gewiß dazu bei. Zudem war Fischer in den sechziger Jahren in der Zunft tatsächlich noch ein hart bedrängter Außenseiter, was schon so manchen Historiker zur exzessiven Überspitzung seiner Thesen bewogen hat. Eine Rolle spielte wohl auch, daß seine Thesen sich gut in die große Trendwende in der deutschen Geschichtswissenschaft vom „Primat der Außenpolitik“ zum „Primat der Innenpolitik“ einfügten.

Hans-Ulrich Wehler sah Anfang der siebziger Jahre schließlich die Außenpolitik des Kaiserreichs weitgehend als „sozialimperialistisch“ determiniert an, als Versuch einer verantwortungslosen Elite, durch außenpolitische und kriegerische Erfolge die inneren sozialen und politischen Widersprüche und Selbstblockaden im Reich zu übertünchen, um ihre Macht und gesellschaftliche Stellung zu behalten. Soweit ging der mit konventionellen politikgeschichtlichen Methoden arbeitende Fischer nicht, doch begann auch er, seine Befunde als einen Beleg für die „Kontinuität in der deutschen Geschichte von Bismarck zu Hitler“ im Sinne einer anlaßlosen Aggressivität zu betonen.

Für die neue Generation deutscher Historiker wurde Fischer so zum Eisbrecher, den sie entsprechend bis heute verehren. Volker Ullrich bekannte noch jüngst bei Zeit-Online, daß „Griff nach der Weltmacht“ ihn so beeinflußt habe „wie kein anderes historisches Werk“. Seine maßlose Bewunderung „für die Courage, mit der Fritz Fischer der historischen Wahrheit eine Gasse gebahnt hat“, ist indes typisch für eine weitverbreitete Haltung auf der Linken, die sich im Alleinbesitz der historischen Wahrheit wähnt und in jeder Gegenposition nur Verschleierungsabsichten und Dunkelmännertum am Werke sieht.

Es geht allerdings auch anders. Von den linken Fischer-Schülern hatte Imanuel Geiss offensichtlich genug vom Geist historischer Wahrheitsfindung verinnerlicht, um in den achtziger Jahren Andreas Hillgruber und Ernst Nolte gegen die Invektiven eines Jürgen Habermas im Historiker-Streit beizuspringen (JF 9/12). Seinem Mentor Fischer hielt Geiss zwar stets die Treue, hielt jedoch Abstand zur Alleinschuld-These, ja dementierte, daß es Fischer je um die Frage der „Schuld“ gegangen sei.

Im Jahr 2003 stellte er schließlich mit Bedauern fest, daß Gerhard Ritter mit seinen Befürchtungen leider recht behalten habe, als dieser nach dem Erscheinen des „Griffs nach der Weltmacht“ eine weitere „Selbstverdunkelung des deutschen Geschichtsbewußtseins“ statt der vor 1945 üblichen „Selbstvergötterung“ befürchtete, die sich nicht „weniger verhängnisvoll auswirken“ dürfte „als der Überpatriotismus von ehedem“.

Die von Fischer unterstrichene „Kontinuität in der deutschen Geschichte von Bismarck zu Hitler“ war es allerdings, die seine Thesen attraktiv für all jene Kräfte machten, die möglichst die gesamte deutsche Geschichte vor 1945 als verhängnisvollen „Sonderweg“ diskreditieren wollen. In den fachinternen Diskussionen an den Universitäten übernahm ab 1970 eine neue Generation von meist linksgerichteten Historikern die Hegemonie. Dort kamen allerdings Fischer-Gegner wie Andreas Hillgruber, Karl Dietrich Erdmann oder Georg Schöllgen weiterhin zu Wort.

In den Medien sah dies nach 1970 anders aus. Rudolf Augstein hatte sich im Spiegel frühzeitig auf die Seite Fischers gestellt, ja sogar dessen Thesen von Anfang an stärker zugespitzt, als dieser selbst es jeweils tat. Andere linke Zeitschriften schlossen sich an. In den sechziger Jahren gab es aber noch einflußreiche konservative Gegenstimmen wie Giselher Wirsing in Christ und Welt. Im Stern, wo Sebastian Haffner für Fischer die Trommel rührte, durfte Paul Sethe ihm noch Kontra geben, und auch die Zeit gab Fischer-Gegnern noch Raum. Die Mehrzahl der Beiträge im Rundfunk und Fernsehen zeigten zwar Sympathie für Fischer, fielen aber noch relativ differenziert aus.

Der Aufstieg der 68er in Schlüsselpositionen der Politik und vor allem der Medien und die Befestigung ihrer kulturellen Hegemonie in den folgenden Jahrzehnten ließ solchen Pluralismus in den Medien nicht mehr zu. Sie suggerierten der Öffentlichkeit nun fast einmütig, daß Fischer nichts weniger als endlich die Wahrheit über die Ursachen des Ersten Weltkrieges ans Tageslicht gebracht habe und die Deutschen für beide Katastrophen Europas im zwanzigsten Jahrhundert die Verantwortung trügen. Dem konnte sich kaum jemand entziehen. Selbst in dem von Dietrich Schwanitz 1999 veröffentlichten Handbuch „Bildung. Alles, was man wissen muß“ wurde die deutsche Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Bestandteil des kulturellen Wissenskanons des modernen Deutschen erklärt. In den Medien galt bald jeder, der daran zu rütteln wagte, als unverbesserlicher Kriegsschuldleugner und ein politisch gefährliches Subjekt.

Seit gut fünfzehn Jahren wird indes in der historischen Wissenschaft wieder kräftiger gerüttelt. Konrad Jarausch und Imanuel Geiss plädierten bereits Anfang des Jahrtausends dafür, daß nur durch eine international vergleichende Betrachtung die unfruchtbare nationale Nabelschau zu überwinden sei. Sie setzten darauf, daß auch in den anderen Ländern eine kritische Betrachtung der eigenen Nationalgeschichte einsetzen und endlich eine umfassende Analyse der Kriegsursachen möglich werden würde. Nicht, um die „Schuldfrage“ endgültig zu klären, sondern um die Ebene von Schulddiskussionen endlich zu überwinden. Unter anderem das jüngst erschienene Buch von Christopher Clark „ Die Schlafwandler“ (JF 42/13) zeigt, daß diese Hoffnung nicht unberechtigt ist.

Tatsächlich droht dem linken „Schuldkult“ der Kollaps, sobald die historische Forschung sich nicht allein deutschen machtpolitischen Zielen und ideologischen Motiven widmet, sondern diese auch als Reaktion auf äußere Lagen und Zwänge begreift, die von deutscher Seite nicht oder nur in geringem Maße zu beeinflussen waren. Daß „die machtpolitisch-argumentierende Tradition“ mit ihren Verweisen auf „Geopolitisches, Geohistorisches und die Wiederkehr des Raumes“ wieder an Boden gewinnt und die „deutsche Politik wieder zurück in die gleichmäßige Staatenkonkurrenz im Kampf um die hegemoniale Ordnung und Ansprüche“ eingereiht wird, stellt für „Schuldkult“-Anhänger nichts anderes dar als eine „Rückkehr der schon überwunden geglaubten ‘deutschen Tradition’“ und ihres „ideologisch apologetischen Charakters.“

In den meisten tonangebenden Medien läßt man deshalb Zweifel an der deutschen Alleinschuld gar nicht erst aufkommen. Wer sie zu bestätigen scheint, wie John Röhl in seiner Biographie Wilhelms II. (JF 43/08), der wird in längeren Beiträgen in den „Tagesthemen“ und im „Heute-Journal“ gefeiert. Wenn hingegen Historiker wie der Brite Niall Fergusson („Der falsche Krieg“, 1999), der Leipziger Historiker Konrad Canis mit seinem Werk „Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914“ (JF 42/13) oder eben Christopher Clark Zweifel aufkommen lassen, werden diese höchstens beiläufig erwähnt oder gleich ganz ignoriert.

In der soeben von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft gemeinsam mit dem Geschichtsmagazin Damals herausgegebenen populärwissenschaftlichen Darstellung des Ersten Weltkriegs kann sich der Historiker Gerd Krumeich nur dazu durchringen, eine gewisse Mitschuld der anderen Mächte an den Spannungen vor Kriegsausbruch anzudeuten – aber erst nachdem er seinen Lesern den Grundsatz eingehämmert hat: „Zweifellos hatte die unverantwortliche Erpressungs- und Bluffpolitik der deutschen Regierung den größten Anteil an der Entfesselung des Krieges.“

Fotos: Pickelhaube als Symbol des Militarismus: Die deutsche Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde zum Bestandteil des kulturellen Wissenskanons des Bundesbürgers ; Fritz Fischer (1908–1999): Ursprünglich ein bedrängter Außenseiter

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