© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Erosion des Sozialstaats
EU-Binnenmarkt: Deutschland muß Arbeitnehmerfreizügigkeit gewähren und Armutswanderung verhindern
Dirk Meyer

Zu Jahresbeginn war es soweit: Die verbliebenen Zugangsbeschränkungen zu den EU-Arbeitsmärkten entfielen für Bürger Rumäniens und Bulgariens. Das könnte die Zuwanderung Geringqualifizierter erhöhen und die Arbeitsmarktanspannungen auch in Deutschland verschärfen. Denn hohe Sozialstandards in einzelnen EU-Ländern bieten Anreize für eine anhaltende Binnenarmutswanderung. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes wird die Arbeitslosigkeit bei den Zuwanderern noch befördern, da den Minderqualifizierten die Lohnflexibilität verwehrt wird. Seit ihrem Beitritt 2007 sind etwa eine Million Bürger aus den beiden Balkanländern nach Italien und 900.000 nach Spanien zugewandert. Deutschland verzeichnete nur 209.000 Zuzüge aus Rumänien und 121.000 aus Bulgarien.

Vor dem EU-Beitritt, im Jahr 2005, belief sich der Anteil der Hochschulabsolventen an den Neuzuwanderern aus Rumänien und Bulgarien auf etwa zwei Drittel (Greencard-Regelung), während der Anteil derer ohne Berufsausbildung nur etwa ein Achtel betrug. Auch nach dem Beitritt fanden weiter Zehntausende aus den beiden Balkanländern eine Arbeitsstelle in Deutschland. Darunter waren auch viele Ärzte, die von deutschen Krankenhäusern mit offenen Armen empfangen wurden. Lediglich die oftmals erbärmlichen Deutschkenntnisse bereiten laut Angaben des Deutschen Ärztetags Probleme. 2010 verfügten nur noch 25 Prozent der Neuzuwanderer über einen Hochschulabschluß, 35 Prozent hatten keine Ausbildung.

Falsche Weichenstellungen auf EU-Ebene erfolgt

In den vergangenen drei Jahren hat sich parallel zu den insgesamt positiven Erfahrungen jedoch in einigen Ruhrgebietsstädten oder in Berlin eine völlig andere Entwicklung vollzogen: Es sind soziale Brennpunkte durch zugezogene Sinti- und Roma-Familien entstanden. Über ihren Anteil an der Zuwanderung nach Deutschland „liegen keine Daten vor, weil die Wanderungsstatistik nicht nach ethnischen Gruppen unterscheidet“, gesteht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ein. Neben den Problemen eines friedlichen Zusammenlebens kommen auf die Kommunen erhebliche Mehrbelastungen durch Unterbringung, Krankenbeihilfe oder Notschlafstellen zu. Mannheim etwa rechnet langfristig mit Kosten von sieben Millionen Euro pro Jahr. Ähnlich wie in England werden deshalb auch bei uns Forderungen laut, den Zugang zu Sozialleistungen für Zugewanderte zu erschweren.

Auf EU-Ebene sind diese Probleme zwei grundlegend falschen Weichenstellungen geschuldet: Erstens wurden mit Rumänien und Bulgarien Länder aufgenommen, die nur knapp die Hälfte des EU-Bruttoinlandsproduktes pro Kopf erzielen. Zweitens lassen sich nicht alle Bedingungen einer EU-Sozialunion gleichzeitig erfüllen: Sozialstaatsprinzip in den reicheren Mitgliedstaaten – Recht auf freie Wohnsitzwahl/Freizügigkeit – Prinzip der Nichtdiskriminierung/soziale Inklusion für alle EU-Bürger. De facto wirken die leistungslosen Sozialeinkommen als Mindestlöhne mit entsprechenden Anreizen für die Zuwanderung. Ein Freiheitsrecht muß deshalb beschränkt werden. Ansonsten drohen eine Überforderung der Sozialbudgets und die Erosion des Sozialstaates.

Die Rechtslage bestimmt maßgeblich der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): Aus der Unionsbürgerschaft (Artikel 18 ff.) ergibt sich einerseits ein Teilhaberecht, andererseits ein Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Hinzu tritt die Arbeitnehmerfreizügigkeit als wesentliches Binnenmarktprinzip (Artikel 45). Konkretisierungen erfahren diese Grundsätze weiter durch die Freizügigkeitsrichtlinie (2004).

Die Rahmenbedingungen müssen verändert werden

Hiernach sind Freizügigkeit und Aufenthalt bis zu drei Monate für alle EU-Ausländer vorbehaltlos zu gewähren (Artikel 6). Einen Anspruch auf steuerfinanzierte Sozialleistungen bedingt dies nicht, er kann aber durch nationale Regelungen gewährt werden. Hieraus erwächst eine Rechtsunsicherheit, wie ein Urteil des Landessozialgerichts NRW, (L6AS130/13) verdeutlicht. Ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate ist an die Ausübung einer abhängigen oder selbständigen Tätigkeit oder den Nachweis ausreichender Existenzmittel und eines Krankenversicherungsschutzes geknüpft. Problematisch sind hierbei die angemessene Festsetzung von Existenzmitteln sowie eine Arbeitslosmeldung nach kurzer Beschäftigungszeit.

Während des Aufenthaltes gilt nämlich ein Grundsicherungsanspruch sowie gegebenfalls ein Leistungsanspruch aus den beitragsfinanzierten Versicherungssystemen. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen führt nicht mehr automatisch zur Abschiebung, insbesondere wenn die Arbeitssuche glaubhaft nachgewiesen wird (Artikel 14). Nach fünfjährigem Aufenthalt wird das Recht auf Daueraufenthalt ohne weitere Voraussetzungen erworben (Artikel 16).

Mit dem Ziel, die soziale Sicherung weiterhin ohne „Trittbrettfahrer“ in die Verantwortung der Mitgliedstaaten zu legen, dabei jedoch die Freizügigkeit zu gewährleisten, wurde 2001 vom wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums und dem Ifo-Institut ein zweistufiges Integrationsmodell vorgeschlagen. Um nicht gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen, müßte diese verzögerte Integration im EU-Recht festgeschrieben werden. Zuwandernde Erwerbstätige unterliegen der Steuer- und Abgabenpflicht des Gastlandes. Im Gegenzug erhalten sie alle beitragsfinanzierten Sozialleistungen und Zugang zur öffentlichen Infrastruktur.

Hinsichtlich aller steuerfinanzierten Sozialleistungen (Grundsicherung, Wohn-, Kinder-, Elterngeld) gelten während einer Karenzzeit von beispielsweise fünf Jahren Beschränkungen. Diese wären auch für alle zugewanderten Nichterwerbstätigen, also auch Familienangehörige, anzuwenden. Gemäß dem Herkunftslandprinzip würden jedoch Ansprüche auf Leistungen des Heimatlandes fortbestehen. Damit bleibt die Erkenntnis: Migration kann Quelle des Wohlstands sein – wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

 

Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. In seinem jüngsten Buch „Euro-Krise: Austritt als Lösung?“ (Lit Verlag 2012) analysiert er Alternativen zur Euro-Rettungspolitik.

 

Armutsmigration aus Balkanländern

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) prognostiziert in einer aktuellen Studie, daß die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien von 71.000 Personen (2012) in diesem Jahr auf 100.000 bis 180.000 ansteigen könnte. Gleichzeitig sinkt die Qualifikation der Neuzuwanderer stetig: Bereits 2010 ist der Anteil der Hochschulabsolventen von 66 Prozent (2005) auf 25 Prozent gesunken. 40 Prozent verfügten 2010 über eine Berufsausbildung. Der Anteil der Neuzuwanderer ohne Berufsabschluß stieg hingegen von 12 auf 35 Prozent. „Auffällig ist insbesondere der starke Anstieg der Saisonarbeitskräfte von 92.000 im Jahr 2009 auf 101.000 Personen im Jahr 2010 und auf 186.000 Personen im Jahr 2011“, so das IAB. Dieser Personenkreis stammt fast ausschließlich aus Rumänien. Hier gemeldete bulgarische und rumänische Bürger seien bislang mit 9,6 Prozent in geringerem Umfang von Arbeitslosigkeit betroffen als der Durchschnitt der ausländischen Bevölkerung in Deutschland (16,4 Prozent).

Analyse „Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien – Arbeitsmigration oder Armutsmigration?“, IAB Kurzbericht 16/13: doku.iab.de

Foto: Bettlerin auf der Brühlschen Terrasse in Dresden: Die Qualifikation der Neuzuwanderer hat sich seit dem EU-Beitritt 2007 verschlechtert

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