© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Von Leichen ernährt
Leiden und Tod: Bilder des Malers Théodore Géricault in der Schirn
Claus-M. Wolfschlag

Der Maler Théodore Géricault wird heute als Wegbereiter der französischen Romantik bewertet, doch viel Nachruhm war ihm nicht beschert. 1824 erlag er 32jährig einem Krebsleiden, nachdem er zuvor sein Vermögen bei Börsengeschäften verloren hatte. Und so mag es an Géricaults frühem Tod liegen, daß sein einige Jahre jüngerer Freund Eugène Delacroix der Nachwelt in weit größerem Maße als Vertreter der französischen Kunst der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gedächtnis geblieben ist.

In der Frankfurter Kunsthalle Schirn ist nun die erste Einzelausstellung zu Géricault in Deutschland zu sehen. Und auch diese Schau widmet sich nicht ausschließlich den graphischen und malerischen Arbeiten des teils Vergessenen, sondern bettet diese in sehr starkem Maß in den künstlerischen, medizinischen und philosophischen Diskurs seiner Zeit ein. So sind neben den 62 Werken Géricaults vergleichend unter anderem Arbeiten Goyas, Delacroix’ und Adolph von Menzels zu sehen. Hinzu kommen zahlreiche wissenschaftliche Exponate aus der Frühzeit der modernen Psychiatrie.

Das kommt nicht von ungefähr, denn Géricault hatte sich das physische und psychische Leiden des modernen Menschen zum Sujet gewählt. Die Frankfurter Schau zeigt zwar auch Reiterbildnisse aus der Zeit der napoleonischen Kriege, Zweikampfszenen, Gesellschaftsszenen sozialer Randexistenzen. Vor allem aber Bilder abgetrennter Gliedmaßen und Köpfe weisen ihn als Zeitzeugen der Jahre nach der Französischen Revolution aus, als die Guillotine aus humanitären Gründen für das mechanisierte Hinrichtungswesen eingeführt worden war.

Helmut Müller schreibt im Grußwort des umfangreichen Katalogs: „Es gelang ihm, eine realistische Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzuzeigen und so die unterschwellige Präsenz von Gewalt, Elend, Schmerz und Tod im alltäglichen Leben zu enthüllen. Dazu kommt die Beschäftigung mit den Abgründen des Seins und der inneren Natur des Menschen nicht in Form lustvoll ausgemalter Schrecken oder metaphysischer Spekulationen daher, sondern ist mit einer analytischen Haltung verbunden, die der wissenschaftlichen Neugierde und der journalistischen Reportage verwandt ist.“

Ab 1818 intensivierte Géricault seine Beschäftigung mit Leichen und dem Tod, die zu seinem bekanntesten Gemälde führen sollte: „Das Floß der Medusa“ von 1819. Eine Ölstudie des Werks ist in Frankfurt zu sehen, das Original hängt im Pariser Louvre. Die Szenerie verarbeitet ein reales Schiffsunglück jener Jahre, die Havarie der Fregatte „Medusa“ 1816 vor der Küste Westafrikas. Bei der Evakuierung war für 150 Schiffbrüchige kein Platz auf den Rettungsbooten, so daß sie auf ein hastig gezimmertes Floß geschickt und entgegen allen Versprechungen auf baldige Bergung sich selbst überlassen wurden. 13 Tage trieb das Floß steuerlos im Atlantik, und es müssen sich in jenem Zeitraum unfaßbar grauenvolle Leiden und Gewaltszenen abgespielt haben. Nur 15 halbnackte Menschen überlebten die Höllenfahrt mit verbrannter Haut, nachdem sie sich von den Leichen der Verstorbenen ernährt hatten.

Die in der Ausstellung zu sehenden Porträts manischer Persönlichkeiten zeigen eine ebenfalls neue Sicht auf psychische Abnormitäten. Galten Geisteskranke noch im Mittelalter und der frühen Neuzeit erst als Produkt in den Körper gefahrener Dämonen, dann als Durchbruch der tierischen Triebstruktur über das Geistige, so wurde der Wahnsinn im aufklärerischen 18. Jahrhundert als Gegenteil der Vernunft interpretiert, als ein Zuviel an zerstörerischer Emotion und Imagination. Géricault nun porträtierte manische Persönlichkeiten, gab ihnen damit zugleich den Wert individueller Wesen zurück, wenn auch erniedrigt und im Zustand psychischer Hilflosigkeit. Flankiert werden seine Gemälde unter anderem durch Zeichnungen Geisteskranker aus der Feder von Zeitgenossen sowie frühe Fotografien von Psychiatrie-Insassen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Géricaults Arbeiten fanden Kritik in einem noch vom Klassizismus geprägten Umfeld, das der Kunst die Abbildung der Schönheit, nicht aber von Siechtum, Schrecken und Tod zuerkennen wollte. Die Annäherung an das Reale durch Ekel widersprach den aus dem 18. Jahrhundert übernommenen ästhetischen Kategorien. Als wolle Géricault seine Haltung zum Programm machen, ließ er sich vor seinem Tod übrigens von Künstlerkollegen mehrfach porträtieren. Diese Bilder des körperlichen Verfalls gehören zu den erschütterndsten der Schau.

Die Ausstellung „Géricault. Bilder auf Leben und Tod“ ist noch bis zum 26. Januar in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main, täglich außer montags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags bis 22 Uhr, zu sehen. Telefon: 069 / 29 98 82-0

Der umfangreich bebilderte Austellungskatalog (Hirmer Verlag) umfaßt 224 Seiten und kostet 39,80 Euro.

www.schirn.de

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