© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Der Gesinnungstäter
Marco Sennholz’ umfassende Biographie des NS-Propagandisten Johann von Leers
Fritz Keilbar

Jede Faser des Dritten Reiches scheint mittlerweile erforscht zu sein. Wir wissen alles über Geschlechterrollen im Nationalsozialismus, sind sämtlichen Gedankengängen Hitlers mehrfach gefolgt und haben keinen Zweifel darüber, wie ein Gesamtbild des Regimes auszusehen hat. Daß diese Forschung dabei manchmal seltsame Blüten treibt, dürfte nicht unbemerkt geblieben sein, wie auch der Grund offensichtlich ist: Da das Terrain vor allem geschichtspolitisch beackert wird, kommt es weniger auf historische Detailkenntnisse als auf die Wertung an, die in jedem Fall bereits vorher feststeht. Das ist zumindest ein Grund dafür, daß es bislang keine Monographie über Johann von Leers gab, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.

Denn bei Leers handelt es sich zweifellos um den produktivsten Propagandisten des Nationalsozialismus, der sich insbesondere mit seinem offensiv vertretenen Antisemitismus einen Ruf erworben hat, der jegliche Beschäftigung mit ihm ausschloß, weil man hier nur eine pathologische Gestalt vermuten konnte. Daß Leers jedoch wesentlich mehr Facetten hatte, zeigt die umfangreiche Arbeit von Marco Sennholz, mit der er an der TU Chemnitz promoviert wurde.

Johann von Leers war Jahrgang 1902 und damit zu jung für den Krieg, wuchs aber mit der katastrophalen Nachkriegssituation nach Versailles auf und wurde dort, beispielsweise in den Freikorps, frühzeitig politisiert. Da das Mecklenburger Familiengut überschuldet war, studierte Leers Jura bis zur Promotion und bewarb sich anschließend für den diplomatischen Dienst, wo er nach Verbesserung seiner Fremdsprachenkenntnisse auch genommen wurde. Nach nicht einmal zwei Jahren quittierte er jedoch den Attachédienst. Leers hat diesen Schritt nachträglich mit seiner „offenen judenfeindlichen Gesinnung“ begründet. Konsequent suchte Leers daher die Nähe zur NSDAP und trat anläßlich einer Rede des Stürmer-Herausgebers Julius Streicher 1929 in die Partei ein.

Seitdem stellte er sich ganz in den Dienst der Partei, unterstützte Goebbels beim Ausbau des Angriff und wurde zu einem unermüdlichen Publizisten und Parteiredner.

Daß er dabei mit dem sozialistischen Parteiflügel um Gregor Strasser sympathisierte, hatte für Leers kaum negative Konsequenzen, weil er rechtzeitig die Seiten wechselte. Seine Stellung versuchte er durch ein möglichst breites Engagement in vielen NS-Unterorganisationen auszubauen, so in der SA und im NS-Studentenbund. Besonders trat Leers als antisemitischer Publizist in Erscheinung, der neben zahllosen Artikeln auch Broschüren mit Titeln wie „Juden sehen dich an“ (1933) oder „Die Verbrechernatur der Juden“ (1944) veröffentlichte. Er suchte aber auch den Kontakt zu Vertretern der Konservativen Revolution, so zu Ernst Jünger und Carl Schmitt. Insbesondere zu letzterem entwickelte sich eine sehr enge Beziehung, die bislang wenig Beachtung gefunden hat.

Nach der Machtergreifung sah er sich zunehmend mit Kritik konfrontiert, die ihm, da er kein hohes Amt bekleidete, leicht gefährlich werden konnte. So gab es Streit über die Deutung vorgeschichtlicher Phänomene, die Stellung der Frau im Nationalsozialismus (wo Leers einen fast feministischen Standpunkt vertrat), die Beurteilung des Expressionismus und außenpolitische Überlegungen, die Leers Gegnern zu rußlandfreundlich waren. Die Konsequenzen waren für Leers spürbar, als er aus der Deutschen Hochschule für Politik ausscheiden mußte und seine akademische Laufbahn vorerst beendet war.

Innerhalb der NS-Polykratie bot sich allerdings bald Ersatz, als Himmler Leers die Mitgliedschaft in der SS anbot. Er war von Leers Forschungen zur Geschichte des Bauerntums angetan, die Leers unterstützt vom Reichsbauernführer Walther Darré betrieb. Diese Forschungen und seine umfangreiche Arbeit zur Geschichte des Handwerks (auf „rassischer Grundlage“) festigten im Laufe der Zeit Leers Ruf als Historiker, was ihm schließlich eine ordentliche Professur für „Deutsche Geschichte, Rechts-, Wirtschafts- und Bauerngeschichte“ an der Universität Jena einbrachte. Aber auch hier verhedderte sich Leers schnell im Gestrüpp von Kompetenzstreitigkeiten, so daß am Ende seine Stellung auch hier fragil geworden war.

Über Argentinien zog es von Leers in den Nahen Osten

Nach der Niederlage 1945 war das eher das kleinste Problem von Leers, der unmittelbar nach dem Einmarsch der US-Amerikaner verhaftet wurde. Er konnte jedoch fliehen und nach Süd-amerika entkommen, wo er eine große deutsche Gemeinde vorfand und wieder publizistisch tätig war. Aber auch in Deutschland erschienen Artikel von Leers, wenngleich nur unter Pseudonym, weil ihm Klaus Mehnert, mit dem Leers eine lange Freundschaft verband, die Wochenzeitung Christ und Welt öffnete. Da die Lage von Leers in Argentinien vor allem finanziell prekär wurde, folgte Leers einem Ruf des Großmuftis von Jerusalem, der ihm in Kairo ein sicheres Exil anbot (und damit die deutschen Sicherheitsbehörden in helle Aufregung versetzte). Dort konvertierte Leers zum Islam und starb 1965.

Diese für den Nationalsozialismus ideologisch so typische und in seiner Radikalität doch eher untypische Gestalt hat Sennholz auf breiter Quellenbasis anschaulich beschrieben. Im Anhang des Buches findet sich eine umfangreiche Bibliographie, die sogar Zeitungsartikel von Leers auflistet, und die zumindest erahnen läßt, welchen Einfluß Leers auf die Öffentlichkeit durch seine permanente Präsenz hatte. Durch die Darstellung der weltanschaulichen Debatten gelingt es Sennholz, Leers in der geistigen Situation der damaligen Zeit zu verorten und widerlegt so die Behauptung, über das Dritte Reich sei alles gesagt. Gerade eine Gestalt wie Leers ist geeignet, den Blick für die Vielschichtigkeit des NS-Staates zu schärfen.

Marco Sennholz: Johann von Leers. Ein Propagandist des Nationalsozialismus. Be.bra Wissenschaft Verlag, Berlin 2013, gebunden, 460 Seiten, Abbildungen, 48 Euro

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