© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/14 / 17. Januar 2014

Wir sind keine Egoisten
Ehrenamt: Die Deutschen sind Spitzenreiter im freiwilligen Engagement für andere
Markus Brandstetter

Es gibt einen alten Witz, und der geht so: Wenn drei Deutsche zusammenkommen, bilden sie einen Verein; sind es fünf, organisieren sie einen Verband, zehn und mehr gründen eine Partei.

Wie bei vielen Witzen steckt auch in diesem ein Körnchen Wahrheit. Deutschland ist tatsächlich das Land der Vereine und Verbände. Ohne größere Gruppe im Rücken fühlen wir uns, so scheint’s, nicht recht wohl. Das geben auch sämtliche Statistiken her: Ganze 71 Prozent von uns sind in Vereinen, Verbänden, Organisationen und Initiativen aktiv. In einer Stadt wie Berlin, die dreieinhalb Millionen Einwohner hat, sind zweieinhalb Millionen Menschen in Vereinen und Verbänden organisiert.

Das ist Weltrekord. In keinem anderen Land der Welt engagieren sich so viele Menschen ehrenamtlich und in ihrer Freizeit, ohne dafür viel mehr zu bekommen als einen warmen Händedruck, viel Arbeit und wenn es hoch kommt eine Aufwandsentschädigung. Ein Drittel von uns übernimmt freiwillige Tätigkeiten für zehn Jahre und länger, das heißt, für diese Menschen ist der Verein Teil ihres Lebens, definiert ihre Existenz; dort lernen sie Ehepartner und Freunde kennen, dort bekommen sie Urkunden und Medaillen, wenn sie zwanzig Jahre dabei waren, und wenn sie sterben, geht der Verein hinter ihrem Sarg her.

Ein Drittel aller Deutschen leitet Sportvereine und Kirchenchöre, ist Schatzmeister in Fußballvereinen und Segelclubs, trainiert zukünftige Bundesliga-Fußballer und Olympia-Teilnehmer, dirigiert Akkordeon-Orchester, Zither-Clubs und Liedertafeln, restauriert römische Ruinen, mittelalterliche Burgen und hält Wanderwege instand.

Ohne Vereine hätte es keinen Boris Becker und keine Steffi Graf gegeben, keinen Franz Beckenbauer und auch keinen Michael Schumacher, der seine ersten Runden auf der Rennstrecke des Kart-Clubs Kerpen-Manheim drehte, wo er mit sechs Jahren die Clubmeisterschaft gewann. Ohne Vereine müßte man die höchsten Berge an einem Tag besteigen oder aber im Zelt schlafen, weil es keine Hütten gäbe, wären Stadt und Land voller kranker und toter Tiere, weil keine Tierheime existierten, würden in den Musiksälen unserer Schulen nicht die Flügel und Klaviere stehen, die die Fördervereine dort hingestellt haben, und es würden vermutlich mehr Häuser abbrennen, weil nicht freiwillige Feuerwehren vor Ort kostenlos löschten, sondern Berufsfeuerwehren aus der nächsten Stadt anrücken müßten, die zudem aus dem Steuersäckel zu finanzieren wären.

Die vielen Vorteile, die die ganze Bevölkerung – und nota bene nicht nur die Vereinsmitglieder – von diesem Engagement hat, liegen auf der Hand. Es ist auch längst nachgewiesen, wer diese Leistungen erbringt: Menschen mit gutem Einkommen, überdurchschnittlicher Bildung und guten Berufen. Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger und Einwanderer engagieren sich kaum in Vereinen und für andere; manche von ihnen gehen wohl davon aus, daß nicht sie der Gesellschaft etwas schulden, sondern ganz im Gegenteil die Gesellschaft ihnen etwas Gutes tun müßte.

Die Bedeutung des freiwilligen Engagements von Bürgern geht aber über die empirisch wahrnehmbaren Vorteile weit hinaus. Für den französischen Demokratietheoretiker und Denker Alexis de Tocqueville sind die Mitglieder von Vereinen und Verbänden aktive Demokraten, Menschen, die am Gemeinwesen mitarbeiten, es gestalten und verändern und dadurch den modernen bürokratischen Staat, der ja immer zu Formelhaftigkeit und emotionaler Kälte neigt und den Launen der jeweils regierenden Parteien ausgeliefert ist, ergänzen und vermenschlichen. Tocqueville sagt, daß der Staat seine Bürger eben nicht von der Wiege bis zur Bahre alimentieren soll, sondern betont, daß souveräne Bürger die res publica formen und durch ihre Tätigkeit eigentlich erst schaffen, wodurch der Staat nicht zu einer erduldeten Obrigkeit wird, sondern zu einem dynamischen Gebilde, an dem jeder durch sein Engagement teilhaben kann.

Den Gedanken, daß engagierte Bürger vieles besser können als der Staat, findet die politische Linke – und damit so gut wie alle deutschen Soziologen, Armuts- und Prekariatsforscher – seit jeher verstörend und beunruhigend. Daß Tafeln und private Suppenküchen den Armen Speise und Trank geben, hören manche von ihnen gar nicht gerne. Soziologen und Wohlfahrtsverbände würden die inzwischen existierenden 900 Tafeln, die seit nunmehr 20 Jahren Lebensmittel an Arme verteilen, am liebsten verbieten, weil der starke Staat dadurch an Macht und Einfluß verliert und der Verdacht aufkeimt, es ginge ab und zu auch ohne ihn. Dabei geht es in Wahrheit, und das wissen alle Soziologen, ohne Ehrenämter und Vereine schon lange nicht mehr: Jugendarbeit, die Integration von Einwanderern und Ausländern, Drogenbekämpfung und Aids-Beratung wären ohne freiwillige Helfer überhaupt nicht mehr möglich.

Wenn denn nun Vereine und ehrenamtliches Engagement schon so viel Gutes bewirken, dann fragt man sich, warum es von der Politik und vom Gesetzgeber so wenig Beifall und noch weniger finanzielle Entlastung für all das gibt. Vereinsvorstände, Trainer und Schatzmeisterinnen, die für den Verein im Jahr auch noch Tausende Kilometer mit dem eigenen Wagen zurücklegen und jede Menge anderer Aufwendungen haben, müssen das von der Steuer absetzen können. Wer – wie jüngst die Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache – mehr Engagement von seiten der Bürger einfordert, der muß das auch politisch fördern.

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