© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/14 / 17. Januar 2014

Pankraz,
Platon/Dion und der zweitbeste Staat

Den Jahreswechsel verbrachte Pankraz auf Sizilien, es war prächtiges, frühlingshaftes Wetter, die Sonne strahlte, die Zitronen- und Orangenplantagen hingen voller Früchte. Aber über allem thronte der gewaltige, schneebedeckte Ätna, 3.600 Meter hoch, grummelte vor sich hin, stieß dunkle Rauchwolken aus, illuminierte die Silvesternacht mit feurigen Miniausbrüchen. Die Lage war ziemlich symbolhaltig. Man kann nicht alles haben, schien sie zu sagen, über jedem Orangenhain brodelt ein Vulkan, der ihn jederzeit mit Lava zuschütten kann. Man sollte immer darauf gefaßt sein, sollte nie auf optimale Erträge spekulieren.

Das gilt nicht zuletzt für die Politik, auch dafür liefert Sizilien handfeste Symbolik. 388 v. Chr. kam Platon, der größte Philosoph und Staatsdenker der Weltgeschichte, im Zuge einer ausgedehnten Bildungsreise nach Sizilien und stieg dort sehr schnell zum Politikberater des Tyrannen von Syrakus, Dionysios I., auf. Der damals noch nicht Vierzigjährige verliebte sich in dessen jungen Schwager Dion, einen an Politik leidenschaftlich interessierten Feuerkopf. Es entstand zwischen den beiden ein intimes Freundschaftsverhältnis, welches für beide schicksalhaft werden sollte.

Platon & Dion wollten in Syrakus den idealen Staat errichten, gleichsam den Inbegriff jeglicher gelungener Staatlichkeit. Doch die Sache ging schief. Der Tyrann verschloß sich den Reformen, die die beiden in Aussicht genommen hatten, ja er entbrannte dagegen in wütenden Zorn und übergab Platon dem spartanischen Gesandten Pollis, welcher ihn seinerseits kurzerhand auf dem Sklavenmarkt von Ägina an einen Friseur verkaufte. Der Politikberater wurde unversehens zum Lockenwickler und Perückenmacher.

Er entstammte freilich einer reichen, sehr einflußreichen Familie in Athen und wurde bald wieder ausgelöst. Nach Athen zurückgekehrt, gründete er die berühmte Akademie und schrieb seine unsterblichen Dialog-Werke, darunter die monumentale „Politeia“, eben das Grund- und Standardbuch „vernünftiger“, idealer Staatspolitik, im Vergleich zu dem alle nachfolgenden politologischen Bücher – nach einem Bonmot von Whitehead – lediglich „Fußnoten zur Politeia“ seien. Das sizilianische Abenteuer ließ Platon aber nicht los, prägte sein ganzes übriges Leben und Denken.

Um 340 v. Chr. war der jüngere Dionysios II. an die Macht gekommen, und Dion, zu dem der intensive Briefwechsel nie abgerissen war, lud Platon dringend ein, noch einmal nach Syrakus zu kommen und das Projekt „Idealer Staat“ ein zweites Mal zu beginnen. Platon kam – und die Sache ging wieder schief. Dionysios II. verwies den Athener nach wenigen Monaten aus der Stadt und seinen Onkel Dion gleich mit. Sklaverei und Lockenwicklerei blieben dem Akademiker aus Athen allerdings erspart.

Und ein drittes Mal (361 v. Chr.) reist Platon nach Sizilien. Doch der Tyrann läßt ihn diesmal sofort nach Ankunft ins Gefängnis werfen, und wohl nur sein inzwischen erlangter Ruhm bewahrt ihn vor dem Todesurteil. Freund Dion zettelt unterdessen in Ägina einen veritablen Aufstand gegen Dionysios an. Seine Garden erobern Syrakus – aber da wird er ausgerechnet von seinem Mitverschwörer und Stellvertreter Kallipos, einem schnöden Verräter, hinterrücks ermordet. Der Versuch, den idealen Staat zu errichten, ist endgültig gescheitert.

Platon wird unter verächtlichsten Umständen nach Athen abgeschoben. Er hat seine Lektion gelernt. Er schreibt die „Nomoi“ („Die Gesetze“), sein letztes Werk und sein einziges, in dem Sokrates nicht mehr vorkommt, weder als Dialogführer noch als Nebenfigur. Es geht Platon nun nicht mehr um den „idealen“, von hinten bis vorn tipptoppen und für jede Situation optimal gewappneten Staat, sondern ausdrücklich um den „zweitbesten“ Staat, der sich gerade wegen seiner Zweitklassigkeit – vielleicht – in die Wirklichkeit umsetzen läßt.

Schon das intellektuelle Klima unterscheidet die „Nomoi“ schneidend von allen übrigen vorangegangenen Dialogen Platons. Es wird nicht mehr unter der schlauen Anleitung des Sokrates von oben herunter diskutiert, nicht irgendein Allgemeinbegriff hin und her gewendet, bis er gewissermaßen zur vollen Idealität erblüht ist. Sondern drei schlichte Kommunalpolitiker melden sich zu Wort, die die Gründung einer neuen Siedlung auf einer bisher noch ziemlich ursprünglichen Insel besprechen.

Ihre Themen sind höchst konkret und teilweise umwerfend banal, so wie eben auch der Alltag der künftigen Bürger des neuen Gemeinwesens weitgehend banal sein wird. Einigkeit besteht von vornherein darüber, daß die „areté“, die Tugendhaftigkeit der Bürger, vor allem aus dem Prinzip der Mäßigung erwachsen soll. Alle Exzesse, auch die zum absolut Guten hin, zum „simmum bonum“, wie es später bei den Römern hieß, seien zu vermeiden, da sie letzten Endes doch nur zu Zwietracht, Stagnation und dauernder Ressourcenverschwendung führen würden.

Vorteile und Nachteile der verschiedenen Regierungsformen – Alleinherrschaft oder Demokratie – werden erörtert, und empfohlen wird am Ende eine sorgfältig mit den jeweiligen Verhältnissen abgestimmte Mischverfassung. Regieren soll eine durch Charakterstärke und Sachkompetenz qualifizierte Elite, die aber nie zur Oligarchie entarten darf. Das Streben nach Tugendhaftigkeit bleibt nicht dem Ermessen des einzelnen überlassen, sondern wird als kollektive Aufgabe aufgefaßt. Höchste Autorität im Staat genießen vorab die Gesetze, deren Änderung oder Vermehrung nur mit größter Vorsicht ins Werk zu setzen sei.

Wie gesagt, nicht das Streben nach Vollkommenheit prägt Platons „Nomoi“, sondern das Streben nach dem jeweils Möglichen und Durchsetzbaren. Das Zweitbeste, so der unüberhörbare Tenor, ist in der Politik das Beste. Darüber läßt sich natürlich ganz trefflich streiten. Doch speziell auf Sizilien, dem Land, wo die Zitronen blühen und doch immer und allgegenwärtig der eisig-heiße Ätna dräut, gewinnt die These viel an Glaubwürdigkeit.

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