© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/14 / 17. Januar 2014

Vieles gegen den Strich gebürstet
Ulrich Schwarzes abschließende Bände über die Deutschen und ihren Staat behandeln das geschichtspolitisch heiße Pflaster des 20. Jahrhunderts
Mario Kandil

Wenn schon Band 1 und 2 von Ulrich Schwarzes Werk „Die Deutschen und ihr Staat“ ein geteiltes Echo auslösten, wird das bei den im September 2013 erschienenen Bänden 3 und 4 erst recht der Fall sein, geht es doch hier um viel sensiblere Phasen deutscher Geschichte, deren Deutung heutzutage vor allem noch durch die Geschichtspolitik beherrscht wird.

Band 3 behandelt den Ersten Weltkrieg, den Versailler Vertrag und das darauf basierende Staatensystem des damaligen Europa. Der Autor deutet diese Elemente als Bausteine des Versuchs der Entente, die „kleindeutsche“ Staatsgründung von 1871 einer „barbarischen Revision“ zu unterziehen. Er legt dar, Versailles sei von der Idee geprägt gewesen, das Deutsche Reich dürfe nie wieder seinen machtpolitischen Status von 1914 einnehmen. Schwarze erörtert die gegen die Ordnung von Versailles gerichtete Revisionspolitik der Weimarer Republik und der Hitler-Diktatur und prangert nicht nur die Entente an, sondern auch den revisionspolitisch nicht entschuldbaren deutschen Einmarsch in die „Resttschechei“ im Frühjahr 1939.

Band 4 schildert eingangs die britische und die polnische Diplomatie vor dem Kriegsausbruch sowie die deutsch-sowjetische Annäherung, die in den Hitler-Stalin-Pakt mündete. Mit diesem wollte Stalin einen Krieg auslösen, in den er als „lachender Dritter“ eingreifen würde, wenn die Kämpfenden am Ende wären. Kontroversen dürfte Schwarzes Aussage auslösen, daß Polen im Sommer 1939 nur die Rolle erfüllte, die ihm die britische Regierung zur Kriegsauslösung zugedacht habe.

Im Zusammenhang mit der nach 1945 erfolgten Umerziehung der Deutschen schildert der Autor deren Folgen bis in die Gegenwart und benennt dabei klar die mit dieser „Reeducation“ verfolgten Ziele. Stalins Note vom 10. März 1952, durch die der Diktator zur Verhinderung der bundesdeutschen Westintegration Verhandlungen über Vereinigung und Neutralisierung Gesamtdeutschlands anbot, hat für Schwarze einen wichtigen Platz in Deutschlands Nachkriegsgeschichte. Zu den Motiven Stalins, dessen Angebot ernst gemeint gewesen sei, sind freilich die Meinungen, auch aufgrund von Akten des früheren sowjetischen Außenamts, noch heute geteilt.

Nachdem die UdSSR die mitteldeutsche Revolution vom 17. Juni 1953 niedergeworfen hatte, schließt Schwarzes historische Darstellung mit der erfolgreicheren Revolution von 1989, die die kleine Wiedervereinigung bewirkte, und mit den internationalen Verträgen, die damals in diesem Kontext geschlossen wurden. Diese werden darauf überprüft, ob sie bezüglich der Ostgebiete „völkerrechtlich konstitutiv wirksame Rechtsübergänge“ enthalten. Im Resultat verneint Schwarze das; für ihn blieb der völkerrechtliche Status der deutschen Ostgebiete in den Grenzen von 1937 unangetastet. Die Deutschlandabkommen 1990/91 hätten ihn nur „außer Streit“ gestellt.

Für den, der sich am gängigen Geschichtsbild orientiert, mögen die Bände 3 und 4 von Schwarzes Werk verstörend wirken, da sie vielfach vom etablierten Wissenschaftskanon abweichen. Dennoch dürfte manch vermittelter Perspektivwechsel anregend sein, um lebendige Geschichte auch als Prozeß der veränderten Betrachtungsweise kennenzulernen.

Ulrich Schwarze: Die Deutschen und ihr Staat. Band 3 & 4. Hohenrain-Verlag, Tübingen 2013, gebunden, 448 und 416 Seiten, Abbildungen, jeweils 26,80 Euro

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