© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Ausdruck eines Formgefühls
Deutsche Sondergotik: Zur Problematik einer nationalen Kunstgeschichtsschreibung
Reinhold Böhnert

Im Jahr 1913 erschien im Münchner Delphin-Verlag unter dem Titel „Deutsche Sondergotik. Eine Untersuchung über das Wesen der deutschen Baukunst im späten Mittelalter“ eine kunsthistorische Doktorarbeit, die es als wissenschaftliche Leistung und als Dokument des Zeitgeistes am Vorabend des Ersten Weltkrieges verdient, anläßlich ihres hundertsten Geburtstages in Erinnerung gerufen zu werden. Ihr Verfasser war Kurt Gerstenberg (1886–1968), Kaufmannssohn aus Chemnitz, in Berlin und München Schüler und Assistent Heinrich Wölfflins, dann von 1919 bis 1945 in Halle tätig, seit 1924 als Professor, und nach dem Krieg noch einige Jahre als Ordinarius in Würzburg.

Dem Beispiel seines Lehrers folgend, trat Gerstenberg für eine theoretisch fundierte Kunstgeschichtsschreibung ein, die, anders als im zurückliegenden positivistischen 19. Jahrhundert üblich, nicht nur Tatsachen konstatieren, sondern „wesentliche“ historische Zusammenhänge erhellen und sich nicht zuletzt als eine um Objektivität bemühte Wissenschaft ästhetischer Urteile enthalten sollte.

Stilwandel in der gotischen Architektur

Anstoß nahm Gerstenberg besonders an der zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer noch verbreiteten Geringschätzung der spätgotischen Architektur. Für Georg Dehio, den damals einflußreichsten Kenner der deutschen Kunstgeschichte, bedeutete sie in allen ihren nationalen Ausprägungen, besonders aber in Deutschland, nichts weniger als „Verfall“ eines in Frankreich am Ende des 12. Jahrhunderts erfundenen europäischen Architektursystems, das im 13. und 14. Jahrhundert seine Blüte hatte und im 15. Jahrhundert als nur noch dekorativer Spätstil wieder von der Bühne der Kunstgeschichte verschwunden war.

Anders als diese obsolete „naturgeschichtliche“ Betrachtungsweise der gotischen Architekturentwicklung begriff sie Gerstenberg ganz im Sinne Wölfflins, der 1888 mit seiner „Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien“ das Beispiel gegeben hatte, als eine gesetzmäßige Folge von optischen Anschauungsformen. So wie mit quasi psychologischer Notwendigkeit der malerische Barock aus der linearen Renaissance hervorgegangen war, habe sich seit dem 14. Jahrhundert auch in der gotischen Architektur ein ähnlicher Stilwandel vollzogen – und zwar in ganz Europa, in Deutschland aber auf besonders ausgeprägte Weise. Aus der deutschen Spätgotik wird für Gerstenberg so eine deutsche „Sondergotik“, die alle Merkmale eines Spätstils verliert und sich in eine Blütezeit verwandelt, die von 1350 bis 1550 reicht und in deren Mittelpunkt die Hallenkirchen stehen.

Gerstenberg scheint sie alle genau gekannt zu haben, von der Heiligkreuzkirche in Schwäbisch Gmünd, mit der die Geschichte der deutschen Hallenkirche Ende des 14. Jahrhunderts beginnt, bis zur Annenkirche im sächsischen Annaberg, mit der sie Anfang des 16. Jahrhunderts endet, und was er über jede einzelne zu sagen weiß, ist noch heute lehrreich und lesenswert.

Gerstenberg geht es aber nicht um einzelne Bauten, sondern er will die deutsche Sondergotik – zunächst als deutsche Variante der europäischen Spätgotik verstanden – als Stil charakterisieren, und dabei stellt sich ein fundamentaler Gegensatz zur frühen und reifen Gotik heraus, wie sie sich im Frankreich des Hochmittelalters entfaltet hatte.

Während die gotische Basilika durch zielstrebigen Aufwärtsdrang, klare Trennung und Linearität der Formen gekennzeichnet ist, beruhigt sich im Horizontalraum der Hallenkirche die Bewegung, verschleifen sich die Raumteile, indem zum Beispiel Gurt- und Scheidbögen verschwinden und so eine vereinheitlichte Decke für Stern- und Netzgewölbe entsteht. Und der Raum nimmt durch die Richtungsfreiheit einen bildmäßigen „malerischen“ Charakter an.

Was ist nun aber das „Deutsche“ an der Sondergotik? Auf diese Frage läuft es bei Gerstenberg hinaus. Er beantwortet sie, indem er einen Stilbegriff installiert, der – anders als der auf das „Sehen“ ausgerichtete Wölfflins – Architektur und bildende Kunst als „Ausdruck“ der Kultur einer Zeit, vor allem aber des „Formgefühls“ eines Volkes versteht; im 14. und 15. Jahrhundert, als die Gotik überall in Europa in ihre Endphase gelangte, hatten es nach Gerstenbergs Überzeugung die Deutschen vermocht, ihre Kunstgeschichte zum Blühen zu bringen und sich in ihr „auszudrücken“. So wie sie es immer getan hätten!

Ein Volk formiert sich über einen langen Zeitraum

Hier nun wird es problematisch. Daß sich ein junger deutscher Kunsthistoriker zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur nationalen Kunstgeschichte hingezogen fühlte, bedarf keiner Erörterung oder Rechtfertigung. Es war auf diesem Feld noch vieles zu erforschen und bezüglich des Verhältnisses der deutschen Kunst zur europäischen zu korrigieren. Nach 1871 hatte sich unter den deutschen Kunsthistorikern allmählich das traditionelle Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der Kunstgeschichte der Italiener und Franzosen und nicht zuletzt der Antike verloren. Und es konnte jetzt geschehen, daß das deutsche Volk als „Kunstträger“ ins Spiel gebracht, zum Beispiel als „Urquell“ jener außergewöhnlichen Kunstblüte zwischen 1350 und 1550 ausgemacht wurde.

Aber trotz aller Begeisterung für die nationale Sache hätte schon vor hundert Jahren eigentlich klar sein müssen, daß kein Volk, auch nicht das deutsche, ganz plötzlich auf der historischen Bühne erschienen war, komplett ausgestattet mit allen seinen angeblichen Eigenarten. Die von Gerstenberg herausgearbeiteten stilistischen Hauptmerkmale der sogenannten deutschen Sondergotik schon bei den Germanen und dann in einem von seinen Anfängen bis in die Gegenwart konstant gedachten „gesamten geistigen Habitus“ des deutschen Volkes zu verorten, wie es auch andere völkerpsychologisch orientierte Kunsthistoriker des vorigen Jahrhunderts für richtig hielten, mußte unweigerlich auf spekulative und ideologische Abwege führen.

Nationale Kunstgeschichtsschreibung sollte stets berücksichtigen, daß sich ihr „Held“ (Georg Dehio), das Volk, über einen langen Zeitraum formiert und dabei ständig verändert hat. Nationale Kunstgeschichte läßt sich nun einmal nicht aus angeblich konstanten Faktoren ableiten. Man kann sie im strengen Sinn nicht „erklären“, sondern eigentlich nur erzählen.

Foto: Spätgotische Kirche St. Annen in Annaberg-Buchholz: Die Hallenkirche ist das Wahrzeichen der Stadt

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