© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Die Ethnisierung der Nation
Neue Forschungen zu Polens Minderheitenpolitik zwischen 1919 und 1939
Oliver Busch

Im November 1918 verwandelte sich das 1916 unter der Ägide der deutschen Obersten Heeresleitung aus der Taufe gehobene Königreich Polen in eine Republik, deren Grenzen Monate später durch Versailles vor allem auf Kosten des Deutschen Reiches und der jungen Sowjetunion fixiert wurden. Die Deutschen im nun Polen zugeschlagenen Westpreußen, in der Provinz Posen und in Ost-Oberschlesien bildeten, gemeinsam mit den seit Jahrhunderten in „Kernpolen“ ansässigen „Volksdeutschen“, jedoch nicht die einzige starke Minderheit. Zusammen mit Ukrainern, Litauern, Weißrussen und Juden stellten sie vierzig Prozent der Bevölkerung des neuen Staatswesens, das somit als Vielvölkerstaat erstand.

Gerade die deutsche Forschung über die Warschauer Minderheitenpolitik in der Zwischenkriegszeit hat sich nach 1990 merklich belebt. In erster Linie ist dafür auf die umfangreiche Untersuchung Albert S. Kotowskis über „Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919–1939“ (1998), die Monographien von Werner Benecke über Polens Ostgebiete als „Minderheitenregion“ (1999) und von Cornelia Schenke über „Polen und die Ukrainer 1921–1939“ (2004) sowie zuletzt die feingliedrige Analyse von Cornelius Gröschel („Zwischen Antisemitismus und Modernisierungspolitik“, 2004) zu verweisen, die die permanente „Bedrohung des jüdischen Wirtschaftslebens“ in der Zweiten Rzeczpospolita thematisiert.

Obwohl diese Arbeiten neben einer Reihe angelsächsischer Studien und sogar einigen kritischen Sondierungen polnischer Historiker den an der Weichsel gern gepflegten Mythos von der polnischen Nation als ewigem Opfer seiner mächtigen Nachbarn ins Wanken brachten, besteht noch erheblicher Aufklärungsbedarf über den bis 1939 gesteuerte außen- und innenpolitischen Kurs der Vertreter des Mehrheitsvolkes. Deren staatliche Institutionen stehen daher auch im Mittelpunkt eines Polens Minderheitenpolitik gewidmeten Schwerpunktheftes der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung (2/2013).

Auch unter Piłsudski gab es keine Liberalisierung

In ihrem einleitenden Aufsatz über „Nationalismus und Pragmatismus“ in der von gleich vier Ministerien (Inneres, Äußeres, Militär, Kultus und Bildung) dirigierten Minderheitenpolitik räumen Christhardt Henschel und Stephan Stach zunächst die hartnäckig kolportierte Legende von deren Liberalisierung nach Marschall Józef Piłsudskis „Machtübernahme“ im Mai 1926 ab. Programmatisch hätten dessen Vorstellungen zwar mehr Raum für Autonomie gelassen als die auf rückstandslose „Polonisierung“ zielenden Konzepte der chauvinistischen Ultras der Nationaldemokratischen Partei Roman Dmowskis. Doch faktisch habe sich unter Piłsudski die „Politik der gebrochenen Versprechen“ fortgesetzt. Nämlich die Mißachtung jener Versprechen, mit denen sich Polen 1919 im Versailler Minderheitenschutzabkommen, 1921 im Friedensvertrag von Riga mit Sowjetrußland und 1922 im deutsch-polnischen Abkommen über Oberschlesien eigentlich völkerrechtlich verbindlich festgelegt hatte.

Aber selbst in der parlamentarischen Ära vor Piłsudski hätten die meist rechtsgerichteten Kabinette nicht durchgängig auf Unterdrückung, auf die vor allem gegen die Deutschen angewandte Mixtur aus „kalter Vertreibung“ und repressiver Assimilation gesetzt. Daher habe die von Kazimierz Młodzianowski, dem Innenminister des Marschalls, 1926 angekündigte „Kehrtwende“ weg von völkischer „Einschmelzung“ der Minderheiten hin zu ihrer staatsbürgerlichen Integration nur deklaratorischen Wert gehabt, zumal Młodzianowski gerade „wegen seiner Ansichten zur Minderheitenpolitik“ nach wenigen Monaten abberufen worden sei.

Die Alltagspraxis der Ministerien und der Administration in den Woiwodschaften habe sich zunehmend von der in der Märzverfassung von 1921 garantierten rechtlichen Gleichstellung der Minderheiten entfernt und kontinuierlich deren „Zurückdrängung“ betrieben. Das Schulgesetz und die Sprachgesetze von 1924 hätten sich in den intoleranter gefaßten Durchführungsverordnungen als probate Mittel zur „Festschreibung der Dominanz des Polnischen als Staats-und Verwaltungssprache“ erwiesen. Zumal die exekutiven Institutionen und Behörden nahezu ausschließlich mit Beamten besetzt waren, „die in das ethnokonfessionelle Raster des ‘katholischen Polen’ paßten“. An der Umsetzung von Minderheitenrechten habe ihnen wenig, an der Demonstration der Autorität des polnischen Nationalstaates indes viel gelegen.

Wie Jerzy Grzybowski und Andrii Rukas in ihren Beiträgen zur Rekrutierungspraxis der Armee schildern, sei der Anteil nicht ethnisch-polnischer Bürger auch in der Unteroffizierslaufbahn so klein wie möglich gehalten worden. Das Aussortieren begann schon bei der Musterung, da auf den Personalblättern neben der vom Rekruten eingetragenen staatsbürgerlichen Nationalität für den Musterungsbeamten noch eine Rubrik frei war, in die er die „tatsächliche“ Nationalität notierte.

Der konsularische Dienst, für Woj-ciech Skóra ein Hort des Polentums, habe sich in der auswärtigen Nationalitätenpolitik zwar gerade im Umgang mit polnischen Juden im Ausland „pragmatischer“ gezeigt, doch dabei nie den „Nutzen für Polen“ vergessen. In Polen hingegen überschritten Gerichte, Staatsanwaltschaften und Polizei ganz offen die Grenze zur Diskriminierung der Juden, die sie als „Bürger zweiter Klasse“ behandelten, einen Befund, den Mateusz Rodaks Studie über das judenfeindliche Justizwesen und die Strafverfolgungsorgane der Zweiten Republik untermauert.

In den dreißiger Jahren, vor allem den letzten vier Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, sei die „Ethnisierung der Nationalität“ zur „tragenden Legitimation des Staates“ geworden. Mit der Konsequenz einer Forcierung der „Exklusions- und Emigrationspolitik“ gegenüber den Juden, den Boykotten jüdischer wie deutscher Geschäfte, der gewalttätigen „Pazifikation“ Ostgaliziens, der Zerstörung mehrerer hundert orthodoxer Kirchen und Kapellen im Chelmer Land und Wolhynien sowie der summarischen Stigmatisierung der Deutschen, Ukrainer und Juden als „potentielle Feinde im eigenen Land“. Welchen Einfluß eine solche, zur Destabilisierung der polnischen „Trägernation“ führende Repressionspolitik auf die strategischen Optionen der Warschauer Außenpolitik seit 1933 ausübte, dürfte eine Fragestellung sein, die vielleicht noch irgendwann später in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung eine Antwort finden wird.

Foto: Straßenbild in Lodz um 1930, im „Manchester Polens“ lebte damals eine Minderheit von Deutschen (etwa 8 Prozent) und Juden (knapp 10 Prozent): Stigmatisierung als potentielle Feinde im eigenen Land

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