© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Der Flaneur
Begegnung mit der Realität
Bernd Rademacher

Die Reihen der Stände auf dem Wochenmarkt sind nach Sortimenten gegliedert. In der Mitte die Gemüsebauern, quer dazu die Molkereihändler, die Bäcker und die Metzger. Ganz außen die Fischhändler, sicher wegen des Geruchs. Etwas abseits werden Stallhasen und lebendes Geflügel angeboten.

Hühner und Hähne verschiedener Rassen hocken in ihren Käfigen, scharren und picken. Hierher kommen besonders gerne die schicken Jack-Wolfskin-Eltern mit ihren Laura-Sophies und Leandern im Kita-Alter.

Der asiatische Herr deutet auf ein Huhn und winkt mit einem Zehn-Euro-Schein.

Die Kleinen sitzen hoch auf Papas Schultern und dürfen durch die Käfiggitter die flauschigen Kaninchen streicheln. Andere bekommen unten auf dem Boden von den über sie gebeugten Müttern pädagogische Vorträge: „Guck, was macht das Huhn? ...“

Die Landwirte in ihren taubenblauen Kitteln und mit roten Gesichtern unter schmalkrempigen Cordhüten wirken deplaziert. Sie schmunzeln manchmal irritiert. Man sieht ihnen die Verständnislosigkeit an. Ist das hier ein Streichelzoo?

Plötzlich zwängt sich unter höflichen Entschuldigungen ein asiatischer Herr durch die Reihen. Er ist mittleren Alters und schlicht gekleidet. Er deutet auf ein Huhn und winkt mit einem Zehn-Euro-Schein. Der Bauer greift das gewünschte Tier und stopft es behutsam in einen Karton. Die Kinder schauen ratlos. Die Eltern ringen um harmlose Erklärungen.

Der Bauer knotet einen starken Bindfaden um den Karton und fragt jovial: „Kommt dat in’n Pott?“ Der freundliche Asiate antwortet lächelnd: „Jaaa, Chicken, hmmm“ und macht mit der flachen Hand Kreisbewegungen auf seinem Bauch. Der Bauer lacht.

Den Jack-Wolfskin-Kindern kullern Tränen über die Wangen. Sie blicken ängstlich fragend ihre Eltern an. Die versuchen abzulenken („Sieh mal, die süßen Kaninchen“) oder haben es plötzlich eilig. Der Asiate spaziert davon und schwenkt fröhlich den Karton.

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