© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

„Das ist alles so schnell gegangen“
Kriminalität: Im Prozeß um den Mord an Daniel S. in Kirchweyhe gibt es Zweifel daran, ob der Richtige angeklagt wurde
Hinrich Rohbohm

Sie bewegen sich hier auf ganz dünnem Eis“, warnt Staatsanwältin Annette Marquardt den Zeugen Carsten L. Der 26jährige ist einer jener zahlreichen Zeugen, die vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Verden aussagen müssen, um Klarheit in den Mordprozeß gegen den Angeklagten Cihan A. zu bringen. Der 20 Jahre alte Türke soll am 25. März vergangenen Jahres am Bahnhof von Kirchweyhe in Niedersachsen den 25 Jahre alten Daniel S. zu Tode geprügelt haben.

Doch ob der Beschuldigte als Täter überführt werden kann, ist fraglich. Zu widersprüchlich sind die Zeugenaussagen. A. hatte zu Beginn des Prozesses über seinen Anwalt Jürgen Meyer erklären lassen, er sei unschuldig. Vielmehr sei es sein türkischer Freund Cahit A. gewesen, der auf das Opfer eingeprügelt habe. Gemeinsam mit seinem Bruder Tahir hatte Cahit als Zeuge die Aussage verweigert und damit Spekulationen darüber entfacht, ob möglicherweise die falsche Person angeklagt sein könnte.

Auch Carsten L. ist dieser Meinung und hat nun mit seiner Zeugenaussage den Angeklagten entlastet. „Daß Cihan hier angeklagt ist, ist meines Erachtens nicht Rechtens“, erklärt er. Zur Tatzeit habe er den Beschuldigten festgehalten, andere hätten auf Daniel S. eingeprügelt. Wer, das möchte er zunächst nicht sagen. Erst auf mehrmaliges Nachfragen redet er Klartext. „Ich glaube, es waren die Brüder aus der Pizzeria.“ Womit Cahit und Tahir A. gemeint sind. L. war erst eine Woche nach der Tat zur Polizei gegangen. „Ich hatte Angst um meine Familie. Außerdem wollte ich da nicht mit reingezogen werden, weil ich der Polizei bekannt bin“, räumt er ein.

In der Tatnacht liegt Carsten L. in seinem Bett und schläft, als plötzlich sein Telefon klingelt. Am Apparat ist sein Freund Roy Sch., der davon spricht, daß es Ärger mit Ausländern gebe und L. dringend zum Bahnhof kommen solle. L. streift sich seinen schwarzen Jogging-Anzug über, macht sich auf zum Bahnhof, der nur 500 Meter von seiner Wohnung entfernt liegt.

Wenig später trifft auch Roy mit seinem Wagen ein, einem schwarzen Skoda. L. steigt zu ihm ins Auto. Sie warten. Kurz darauf trifft der Discobus ein. Cihan A. sei als erster herausgekommen, „hektisch“ in Richtung Bahnhofsgebäude gelaufen und habe dort seine Jacke hingeschmissen, erinnert sich L.

„Ich bin aus dem Auto gestiegen und auf Cihan zugejoggt, um ihn aufzuhalten“, erzählt L. dem Gericht. „Wieso wollten Sie ihn aufhalten, Sie wußten doch noch gar nicht, was los war“, fragt ihn Richter Joachim Grebe. „Na ja, wenn jemand aus dem Bus gerannt kommt und seine Jacke wegwirft, kann man sich das ja denken“, entgegnet der Zeuge, der betont, daß der Angeklagte für ihn ein Bekannter, aber kein Freund sei.

Weil er mit dem Rücken zum Bus stand und damit beschäftigt gewesen sei, Cihan A. festzuhalten, habe er wenig von dem mitbekommen, was hinter ihm geschehen war. „Das ist alles so schnell gegangen“, sagt er immer wieder. Allerdings habe er einen Ausländer mit schwarzer Daunenjacke und einem Cap auf dem Kopf gesehen, der auf das Opfer zugelaufen war und ihm mit der Faust ins Gesicht schlug. „Das hat richtig geklatscht“, schildert L.

Als er kurzweilig damit beschäftigt war, eine weitere Person in Schach zu halten, sei ihm der Angeklagte entwischt. Aus den Augenwinkeln habe er wahrgenommen, wie Cihan A. zum Tritt gegen den bereits am Boden liegenden Daniel S. ausgeholt habe. „Hatte er ihn getreten?“ will es der Richter genauer wissen. „Das habe ich nicht mehr gesehen“, meint der Zeuge. Grebe hält ihm seine bei der Polizei getätigte Aussage vor, nach der Cihan A. dem Opfer in die Seite getreten habe.

Die Staatsanwältin hat Zweifel

„Ich hatte der Polizei gesagt, daß er vielleicht getreten hatte, aber das vielleicht wollten die mir ausreden.“ „Erzählen Sie hier jetzt keinen vom Pferd, das ist Unsinn“, ermahnt ihn der Richter.„Stimmt es, daß sie mit dem Bruder des Angeklagten über die Tat gesprochen haben?“ forscht Grebe weiter nach. „Kann sein“, räumt L. ein.

Staatsanwältin Annette Marquardt hat Zweifel an der Darstellung. „Mehrere andere Zeugen haben berichtet, daß es Cihan war, der dem Opfer in den Rücken getreten hat“, hält sie L. vor. Deren Aussagen hätten sich jedoch widersprochen, entgegnen darauf Cihans Verteidiger Jürgen Meyer und Martin Stucke. Eine dieser umstrittenen Zeugen ist Ina B. Die junge Frau hatte bei ihrer polizeilichen Vernehmung angegeben, daß Cihan A. dem Opfer gegen den Kopf trat. Vor Gericht hatte sie diese Aussage abgestritten. Der Polizist Jörg S. hingegen bestätigt die damals ihm gegenüber getätigte Aussage. Er war der erste Beamte am Tatort, hatte Ina B. noch im Discobus vernommen. Eine Verwechslung der Namen aufgrund der Ähnlichkeit von Cihan A. und Cahit A. schließt er aus. „Genau deswegen hatte ich das ja aufgeschrieben“, sagt er.

An vorherigen Verhandlungstagen hatte es immer wieder zweifelhafte Aussagen von Zeugen gegeben. Viele von ihnen sollen sowohl aus dem Umfeld von Cihan A. als auch aus dem der „Pizzeria-Brüder“ Cahit und Tahir A. bedroht worden sein. Ein Ende des Prozesses ist derzeit noch nicht abzusehen. Bis Ende Februar wurden weitere Verhandlungstage festgelegt.

 

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