© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Die Halle ist zu zwei Dritteln gefüllt, das Publikum bunt gemischt. Wacken-T-Shirt-Träger sitzen neben Hausfrauen, ergraute Altrocker in Jeans-Montur und Haarzopf neben einem schlanken bebrillten Mittvierziger, Typ Sta-tionsarzt, weißes Hemd, blauer V-Ausschnitt-Pullover. Kuttenträger schieben ihre Schmerbäuche und Bierbecher durch die Menge, ein Familienvater kauft seinem zwölfjährigen Filius ein Softgetränk, eine ondulierte Mittfünfzigerin nestelt an ihrer Pelzjacke, ein hochgewachsener Kerl trägt Cowboyhut und einen bodenlangen Ledermantel, auf dessen Rückseite der Aufnäher „Rock’n’ Roll Preacher“ prangt. Sie alle sind an diesem Abend ins Berliner Tempodrom gekommen, um ein Spektakel zu erleben, und sie sollten nicht enttäuscht werden.

So verschieden das Publikum, so abwechslungreich das Geschehen auf der Bühne. Beethoven mit E-Gitarren, Mozart mit Bassdrums? Heavy Rock und Oper, Metal und Musical? Paßt das alles zusammen? Puristen beider Fraktionen, der klassischen wie der metallischen, müssen jetzt tapfer sein: Beim Trans-Sibirian Orchestra gehen die einzelnen Elemente eine perfekte Symbiose ein. Das aus der US-amerikanischen Power-Metal-Band Savatage hervorgegangene Musikprojekt besteht an diesem Abend aus den Saitenhexern Al Pitrelli und Chris Cafferey, dem Bassisten Johnny Lee Middleton, Schlagzeuger Jeff Plate, zwei Keyboardern, zehn Sängern und einem Streicher-Ensemble. Sie spielen ein mitreißendes Rockkonzert mit Klassikanleihen und Musicaleinflüssen, dazu liefert die Truppe eine bombastische Video-, Licht- und Lasershow samt Stroboskopblitzen und ausladender Pyrotechnik.

Es erklingen Bruchstücke aus Beethovens „Ode an die Freude“, Mozarts „Figaro“, Nikolai Rimski-Korsakows „Hummelflug“, von Edvard Grieg und aus der „Carmina Burana“. Die Solo-Violinistin Asha Mevlana fidelt sich auf ihrer elektrischen Sieben-Saiten-Geige die Seele aus dem Leib, Musicalsänger Rob Evan („Jekyll & Hyde“) klingt phasenweise original nach Meat Loaf. Savatage-Klassiker wie „Believe“, „Handful of Rain“ oder „Gutter Ballet“ in orchestralem Gewand sorgen für Gänsehaut.

Die Halle besteht inzwischen nur noch aus Wackeldackeln. Nicht nur die Headbanger im Innenraum spreizen ihre Zeigefinger und kleinen Finger von der Faust ab zur Pommesgabel, dem gültigen Gruß in der Metalszene. Nach zweieinhalb Stunden ziehen restlos alle zufrieden von dannen in die bitterkalte Nacht hinaus.

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