© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

Kinder sind die Leidtragenden
Chaos der Gefühle: Dem iranischen Regisseur Asghar Farhadi ist mit „Le passé – Das Vergangene“ ein grandioses Beziehungsdrama gelungen
Wolfgang Paul

Das Vergangene läßt sich nicht so einfach wegwischen wie der Titel „Le passé“, der von einem Scheibenwischer am Anfang entfernt wird. Da kann man schon ahnen, daß dies ein großer Film werden wird. Ein Film über Beziehungen und über das, was passierem kann, wenn sie gelöst werden.

Es gibt zu Beginn noch eine zweite Idee, die den Iraner Asghar Farhadi als einen großen, klassischen Filmerzähler ausweist. Es ist der Versuch einer Frau und eines Mannes, sich durch eine schalldichte Glaswand zu verständigen. Mit den Schwierigkeiten des Verständigens und Verstehens werden die beiden bis zum Schluß kämpfen.

Regisseur Farhadi, Jahrgang 1972, ist kein Unbekannter in der Welt des internationalen Films. Für das Drama „Nader und Simin – eine Trennung“ wurde er gleich reihenweise ausgezeichnet: Goldener Bär der Berlinale 2011 und für die Männer und Frauen vor der Kamera je ein Silberner Bär, es folgten Golden Globe und Oscar für den besten fremdsprachigen Film und weltweit zahlreiche Kritikerpreise.

Damals galt die Aufmerksamkeit vor allem Farhadis regimekritischer Haltung. Ging es doch um eine Geschichte aus Teheran: Eine Frau wollte auswandern, ihr Ehemann fühlte sich verpflichtet, für seinen dementen Vater zu sorgen, und die gemeinsame Tochter mußte sich entscheiden, bei wem sie bleiben wollte. In „Le passé – Das Vergangene“, seinem neuen Film – mit dem er in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ für einen Golden Globe Award nominiert war –, geht der Regisseur mit anderen Personen und in einer anderen Stadt einen Schritt weiter in der Entwicklung einer Trennung.

Eine moderne Tragödie, spannend wie ein Krimi

Vor vier Jahren hat der Iraner Ahmad (Ali Mosaffa) seine Ehefrau Marie (Bérénice Bejo) in Paris verlassen. Jetzt kehrt er aus Teheran zurück, um auch formal die Scheidung zu vollziehen. Marie ist inzwischen mit Samir (Tahar Rahim) liiert, der mit seinem kleinen Sohn bei ihr eingezogen ist. Etwa gleichaltrig ist die eine Tochter von Marie, die zweite, Lucie (Pauline Burlet), befindet sich auf pubertärem Kriegsfuß mit der Mama. Sie habe schon drei Partner ihrer Mutter kommen und gehen gesehen, sagt Lucie zu Ahmad. Zwischen Mutter und Tochter ist also schon viel Vertrauen verlorengegangen – und nicht nur zwischen ihnen.

Ahmad, der in einem Hotel wohnen wollte, wird von Marie kurzerhand im einst gemeinsamen Häuschen einquartiert und bekommt dort schon bei der Zuweisung seines Schlafplatzes zu spüren, daß in diesem Haus mehr als nur der Abfluß in der Küche nicht in Ordnung ist. Er findet ein Chaos der Gefühle vor und sieht sich gezwungen, ein Geheimnis nach dem anderen aufzudecken, um die gestörten Beziehungen der Hausbewohner zu klären. Dabei rückt Farhadi immer wieder die Kinder ins Bild. Sie beobachten mit großen Augen das Treiben der Erwachsenen, das für sie nicht folgenlos bleibt.

Daß Kinder die Leidtragenden sind, wenn ihre Eltern den Drang zur „Selbstverwirklichung“ entdecken, ist nicht gerade eine neue Erkenntnis. Grandios ist indessen, wie Farhadi seine Geschichte von Familie und Verantwortung erzählt – als eine moderne Tragödie, die so spannend ist wie einen Krimi.

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