© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

Heiliger Kaiser und kaltblütiger Barbar
Karl der Große starb vor 1.200 Jahren: Zwei neue Biographien stimmen auf das runde Jubiläumsjahr ein
Alexander Heimeran

Kaum ein Herrscher des Mittelalters hat die Nachwelt so in seinen Bann geschlagen wie Karl der Große. Deutsche wie Franzosen verehren den Franken als Gründervater; noch im Mittelalter wurde er zum Mythos.

Im Januar 2014 jährt sich sein Todestag zum 1.200sten Mal. Ausstellungen, Tagungen und zahlreiche Veröffentlichungen säumen den Weg zum großen Karlsjahr; zwei renommierte Verlage haben bei ausgewiesenen Fachleuten neue, historische Biographien angeregt, die pünktlich auf dem Markt erschienen sind. Wer glaubt, im Grunde dieselbe Geschichte erzählt zu bekommen, der irrt. Allein was den Umfang angeht, ist der Unterschied gewaltig: Johannes Fried erschlägt den Leser mit fast 750 Seiten, Stefan Weinfurter kommt mit weniger als der Hälfte aus.

Eine Biographie im modernen Sinne, so meint Fried, könne man über Karl, den er bisweilen „Charlemagne“ nennt, gar nicht schreiben. Frieds Buch ist eine Fiktion, wie er selbst betont, gleichwohl kein Roman. Er legt im Vorwort das dazugehörige Konzept einer historischen Memorik dar, einer radikalen Quellenkritik, die als Gedächtniskritik daherkommt. Jede erinnerte Vergangenheit sei „das bald unbewußte, bald bewußte Gedächtniskonstrukt einer Gegenwart. (...) Die Geschichte fließt immerzu fort, weil sie dem menschlichen Gedächtnis verhaftet ist; sie muß stets neu überdacht und neu erzählt werden“. Sie biete kein „ewig unveränderliches ‘So-war-es’“.

Wenn die Quellen ohnehin nicht zuverlässig sind, so könnte man seine Argumentation etwas zuspitzen, warum sollte man dann nicht gleich ein wenig die Phantasie spielen lassen? Fakten mit Fiktionen auffüllen? Eine objektive Darstellung, so Fried, sei ohnehin nicht möglich. An dieser Friedschen Art, Geschichte zu schreiben, entzündete sich bereits 1995 eine heftige Kontroverse mit dem Mediävisten Gerd Althoff. Vor wenigen Jahren überraschte Fried dann die Fachwelt von neuem, indem er den „Gang nach Canossa“ anzweifelte und als „Pakt von Canossa“ umdeutete. Viele, unter anderem Stefan Weinfurter, haben ihm energisch widersprochen. Auch zu Karl hat Fried gewöhnungsbedürftige Neuinterpretationen parat, zum Beispiel in bezug auf die Kaiserkrönung des Jahres 800.

Weinfurter hat eine klassische wissenschaftliche Biographie vorgelegt, konzise und fundiert, dabei packend geschrieben. Er versucht zu zeigen, was den Kaiser antrieb, was er erreichte, wo er zweifelte, wo er scheiterte. Anhand seiner These der „Vereindeutigung“, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht, beschreibt Weinfurter Karl den Großen stimmig und überzeugend als Leitfigur einer Epoche, die davon durchdrungen war, in allen Bereichen eindeutige Verhältnisse herbeizuführen, insbesondere in Fragen der Kultur und Religion.

Teil dieser von Karl und seinen Gelehrten betriebenen „Eindeutigkeits-Offensive“ waren etwa eine großangelegte Bildungsreform oder der Versuch, die Benediktsregel verbindlich für alle Klöster des Reiches vorzuschreiben. Karl erstrebte ein Gottesreich auf Erden. Das bekamen nicht zuletzt die Sachsen zu spüren, denen er „mit eiserner Zunge predigte“, wie es eine sächsische Quelle später formulierte. Ihr Heiligtum, die Irminsul, ließ er zerstören. Missionare begleiteten seine Kriegszüge. „Ec forsacho allum dioboles uuercum and uuordum, Thunaer ende Uuuôden ende Saxnôte ende allum them unholdum, thê hira genôtas sint.“ („Ich widersage allen Teufeln in Werken und Worten, dem Donar, dem Wodan und dem Saxnot und allen Unholden, die ihre Genossen sind.“) So sollten die Sachsen im „Altsächsischen Taufgelöbnis“ schwören. Gewalt als Gottesdienst: Wer auf Veranlassung Gottes Kriege führt, der unterliegt nicht dem Gebot „Du darfst nicht töten“; so las man es beim spätantiken Kirchenlehrer Augustinus, an dessen philosophischer Schrift De civitate Dei („Vom Gottesstaat“) der Karolinger die größte Freude hatte – auch wenn er diese selbst wohl nicht lesen konnte.

Karl polarisiert. Heiliger Kaiser, Vater Europas, Beschützer der Kirche – kaltblütiger Barbar, Schlächter, wollüstiger Lebemann! „Je suis Charlemagne“, prahlte Napoleon. Für Leopold von Ranke, den Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, galt Karl als „Vollstrecker der Weltgeschichte“; der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, der bei Ranke studierte, feierte Karls Verdienste um die kulturelle Erneuerung. Der Publizist Arthur Moeller van den Bruck würdigte dessen „nordisches Kaisertum“ als diejenige Macht, die Christentum und Germanentum verband.

Schon der Aufklärer Voltaire hatte indes auf des Kaisers dunkle Seiten verwiesen; für ihn war er schlicht ein Gewaltherrscher, der Tausende Sachsen auf dem Gewissen hatte. In dieselbe Kerbe schlug der NS-Ideologe und zeitweilige Chefredakteur des Völkischen Beobachters, Alfred Rosenberg: Er schmähte ihn als „Sachsenschlächter“. Eine Phalanx von acht Gelehrten – darunter sowohl Befürworter als auch Gegner des Nationalsozialismus – wandte sich 1935 in einem Sammelband gegen diese einseitige Beurteilung, darunter Karl Hampe, Carl Erdmann, Friedrich Baethgen, Hans Naumann, Hermann Aubin und Albert Brackmann. Tatsächlich mißlang die Umdeutung; nicht zuletzt, weil auch Hitler Rosenbergs Kurs mißfiel. Er verglich sich, wie vor ihm schon Napoleon, gern mit Karl dem Großen.

Verlorene Idee eines „christlichen Abendlandes“

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Karl dann zum ersten Europäer uminterpretiert; seit 1950 verleiht ein – mit Vertretern aus Politik und öffentlichem Leben beschicktes – Direktorium in Aachen den Karlspreis für Verdienste um Europa und die europäische Einigung. Der Preis geht dieses Jahr an Herman Van Rompuy; auch Jean-Claude Juncker, Angela Merkel, Jean-Claude Trichet und Wolfgang Schäuble schmücken sich mit der Auszeichnung. 2002 erhielt ihn gar der als Friedensbringer gefeierte Euro.

Im öffentlichen Bewußtsein spielt Karl der Große heute dennoch nicht mehr die Rolle, die man ihm einst zumaß. Weinfurter erklärt den schwindenden Glanz Karls des Großen etwa damit, daß die Vorstellung von Europa als einem „kulturellen und zivilisatorischen Vorsprungs-Kontinent“ mittlerweile nicht mehr gelte. „Eurozentrismus“ werde heute genauso wie die Kategorie der Nation zu den gröbsten Verirrungen der Geschichtswissenschaft gezählt. Die Idee von einem „christlichen Abendland“ habe ebenfalls längst ihre Kraft verloren „angesichts moderner Sehnsüchte nach einer transkulturellen Gesellschaft, in der sich auch die Religionen in einem ständigen Bewegungsfluß gegenseitig befruchten mögen“.

Weinfurter weigert sich zu Recht, diesen zeitgeistigen Wandel in seinem Buch zu bewerten. Er stellt diese modernen Veränderungen lediglich der von ihm beschriebenen Zeit gegenüber; freilich hält er uns damit gleichsam den Spiegel vor: Unter Karl dem Großen habe man um Eindeutigkeit gerungen, im Gegensatz zu heute, wo man eindeutige Antworten vermeide: „Unter uns hat längst die Überzeugung um sich gegriffen, daß es ebenso viele Wahrheiten gibt wie Kulturen und deren Traditionen in der Welt, denen man sich öffnen möchte.“

Wie um ein Beispiel dafür zu geben, resümiert Fried in seinem Epilog, daß der mit der Globalisierung konfrontierte Historiker Karls Rolle relativieren müsse; europäische, nationale, christlich-abendländische Bezüge seien selbstredend „völlig antiquiert, auch wenn gegenwärtig nationale Restaurationstrends wahrzunehmen sind“. Wer eine zeitlose Darstellung sucht, der hält sich besser an Weinfurters neuen „Karl“.

Johannes Fried: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2013, gebunden, 736 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro

Stefan Weinfurter: Karl der Große. Der heilige Barbar. Piper Verlag, München 2013, gebunden, 352 Seiten, Abbildungen, 22,99 Euro

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