© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/14 / 07. Februar 2014

Deutschland und die militärische Zurückhaltung
Sentimental statt nüchtern
Thorsten Hinz

Bundespräsident Joachim Gauck hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Deutschen aufgefordert, ihre Mentalität der militärischen Zurückhaltung aufzugeben. Die Bundesrepublik müsse „bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr über Jahrzehnte von anderen gewährt wurde“. Ähnlich äußerten sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Sie sanktionierten den sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel, der sich seit Jahren schleichend vollzieht.

Deutsche Soldaten stehen längst in allen möglichen Weltgegenden. Niemand, auch Gauck nicht, hat überzeugend erklärt, was sie dort zu suchen haben. Doch auch die pazifistische Kollektivmentalität ist kein Ausdruck politischer Reife, sondern die mentale Folge eines historischen Ausnahmezustandes.

Nach zwei verlorenen Weltkriegen wurde Deutschland zum Mündel der Sieger. Eine eigenständige Wehrpolitik war ihm verboten. Traumatisiert und mit dem Stigma historischer Erbschuld versehen, machten die (West-)Deutschen aus der Abhängigkeit eine Tugend. Sie wurden bereitwillige Zahler und pflegten im Gegenzug eine pazifizierte Existenz. Das war kostengünstig und versprach einen moralischen Mehrwert: Indem sie ihre Buß- und ihre Friedfertigkeit demonstrierten, erlangten sie vordergründige Anerkennung. Doch das Politische verkümmerte darüber zur Kaufmanns- und Ablaßlogik.

Wenn Gauck meint, daß diese Logik heute nicht mehr genügt, hat er recht. Doch was ist seine Alternative? Militärische Einsätze sind stets nur ein allerletztes Mittel, um Anschläge auf die eigenen Lebensinteressen zurückzuweisen. Auch die Westmächte gewährten der Bundesrepublik den militärischen Schutz nicht aus Sentimentalität, sondern aus Eigeninteresse. Um seine Interessen zu definieren, müßte Deutschland erst einmal ein realistisches Selbstbild und eine relative Entscheidungsautonomie erlangen. Dazu müßte es sich aus dem Gefängnis der Schuldideologie und der imperativen Fremdzuschreibungen befreien.

Das aber ist nicht zu erwarten. Die politische Klasse steht treu und NSA-beschirmt auf der Atlantik-Brücke. Gauck brachte in seiner Münchner Rede ausdrücklich Deutschlands „historische Schuld“ ins Spiel: nicht um das erpresserische und infantile Narrativ zu verabschieden; vielmehr warnte er davor, aus ihm die falschen Schlüsse zu ziehen. Schuld erlaube keine „Selbstprivilegierung“ durch „Bequemlichkeit“ und „Weltabgewandtheit“, sie verpflichte zur Verteidigung „universeller Werte“. Wer die wohl festlegt?

Als 2013 beim Obama-Besuch vor dem Schloß Bellevue die Hymne des westlichen Hegemons erklang, kamen Gauck die Tränen. Das war symbolisch. Wo politische Nüchternheit gefragt ist, regieren in Deutschland Untertänigkeit und Sentimentalität.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen