© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/14 / 07. Februar 2014

Kranke Häuser
Gesundheitssystem: Zwei Studien analysieren die Hauptmängel in deutschen Kliniken / Mehr Technikeinsatz als möglicher Ausweg
Jens Jessen

Obwohl die gesetzlichen Krankenkassen für die Krankenhäuser mit 67 Milliarden Euro Jahr für Jahr mehr Geld ausgeben als die meisten Länder auf der Welt, sind die Deutschen nicht besser versorgt. In internationalen Vergleichen liegen sie nur im hinteren Mittelfeld – soweit es die Versorgung der Patienten, die Qualität der Behandlung und die Beachtung der Patientenrechte angeht. Daß jährlich in deutschen Krankenhäusern etwa 19.000 Patienten an Pfusch, Personalmangel und Hygieneproblemen sterben, hat die Krankenversicherten erschüttert.

Sanierungsversuche sind gescheitert

Nach Max Geraedts, einem der Herausgeber des neuen AOK-Krankenhausreports, entstehen die meisten Fehler bei operativen Eingriffen. Knapp die Hälfte der Todesfälle sind nach seiner Ansicht vermeidbar. Je komplizierter die Eingriffe sind, desto höher ist das Risiko. Viele Krankenhäuser bieten komplizierte Behandlungen an, obwohl ihre Ärzte teilweise die Anforderungen nicht bewältigen können.

In manchen Krankenhäusern ist die Gefahr, daß eine Hüftimplantation schiefgeht, zwanzigmal so hoch wie in anderen Krankenhäusern. Patienten mit Lungenentzündungen sterben in einer „falschen“ Klinik mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit im Vergleich zu Patienten, die ein „gutes“ Krankenhaus erwischt haben. Die meisten Operationen dürfen in Deutschland von jedem Chirurgen einer Disziplin gemacht werden, der sich dazu berufen fühlt, unabhängig davon, ob er diese Operation schon einmal durchgeführt hat.

Andere Länder kennen weniger blindes Vertrauen in den Arzt und verlangen dafür mehr Transparenz von den Kliniken, was ihre Erfolgsquote angeht. In den Niederlanden, Schweden und der Schweiz schreiben Gesetze vor, wie oft pro Jahr ein Chirurg oder ein Krankenhaus eine Operation gemacht haben muß. Und in Großbritannien veröffentlicht der staatliche National Health Service für jedes Krankenhaus, wie viele Menschen bei einem Aufenthalt in ihm sterben und welcher Gesundheitszustand bei den eingelieferten Patienten festgestellt wird. Für Krankenhäuser mit guten Ergebnissen gibt es einen finanziellen Bonus. Erste Ergebnisse ergeben in Großbritannien einen Rückgang der Kliniksterblichkeit.

In Deutschland hingegen hat das Modell der Fallpauschalen dazu geführt, daß Patienten oft nur unzureichend behandelt werden. Eine Studie der Beratungsgesellschaft KPMG kommt zu dem Ergebnis: „Weder wird die Qualität in deutschen Krankenhäusern ver­läßlich ermittelt, noch wird sie ausreichend vergütet.“

Es geht nicht nur um Ärzte und Klinken. Auch beim Pflegepersonal liegt einiges im argen: In vielen Kliniken schaffen es die Krankenschwestern und Pfleger nicht mehr, die Patienten ausreichend zu versorgen. Seit 1996 haben die deutschen Krankenhäuser rund 50.000 Krankenpflegestellen abgebaut.

Seit vier Jahrzehnten arbeiten sich Gesundheitsminister an der Sanierung des Gesundheitswesens durch bürokratische Lenkung und mit Planungseingriffen ab. Dabei wurden immer wieder neue Prioritäten gesetzt, nicht immer die richtigen.

Die Äußerung von Politikern, im Gesundheitssystem gebe es Rationalisierungsreserven, ist trivial. Völlig unvermeidlich sind sie in einem System, in dem die Güter und Leistungen zum Nulltarif nach Bedürftigkeit verteilt werden und diejenigen, die über das Vorliegen eines Bedürfnisses entscheiden, durch seine Befriedigung ihr Einkommen erhöhen können.

Ein Problem: Deutschland droht den Anschluß an die technische Entwicklung zu verlieren. Der Göttinger Medizininformatiker Otto Rienhoff hat schon vor Jahren in der Wirtschaftswoche (5/2007) darauf hingewiesen, daß die Bedeutung der Informationstechnik für die Medizin in vielen europäischen Ländern lange nicht erkannt wurde. In Asien tragen ältere oder chronisch kranke Menschen längst elektronische Meßgeräte bei sich, die Alarm schlagen, sobald bestimmte Körperfunktionen aus dem Ruder laufen. In Deutschland wird diese Möglichkeit immer noch belächelt. Dabei sind die Einsparungen um so größer, je mehr teure Eingriffe durch Frühwarnsysteme verhindert werden.

Die Ärzte müßten nach Ansicht von Otto Rienhoff radikal umdenken, um die positiven Effekte der fortschreitenden Digitalisierung nutzen zu können. In Skandinavien und der Schweiz wurde die problemorientierte Dokumentation längst in die Lehrpläne der Medizinerausbildung aufgenommen.

KPMG: Qualität und Wirtschaftlichkeit im deutschen Gesundheitssystem, Berlin, 2014, 16 Seiten, www.kpmg.de

Foto: Behandlung: Laut OECD kommt in Deutschland eine Krankenschwester auf zehn Patienten, der EU-Durchschnitt liegt zwischen vier und sechs

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