© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

„Die Einzigartigkeit des Westens“
Die Kultur des Westens wird heute entwertend dargestellt und multikulturell umgedeutet, dabei ist sie außergewöhnlich und hat die Welt in die Moderne geführt, so Ricardo Duchesne in seinem Werk „The Uniqueness of Western Civilization“.
Moritz Schwarz

Herr Professor Duchesne, was bitte ist an der westlichen Kultur einzigartig?

Duchesne: Ich sage nicht, daß nicht auch andere Zivilisationen einzigartig sind. Aber ich nenne Ihnen nur mal drei Zahlen: 97 Prozent aller wissenschaftlichen Errungenschaften zwischen 800 vor Christus und 1950 stammen aus Europa und Nordamerika. 95 Prozent aller Entdecker in der Geschichte waren Europäer. Und Europa brachte weit mehr große Kunstwerke hervor als alle anderen Kulturen zusammengenommen.

Zufall: Schließlich hat jede Kultur ihre große Zeit, im Grunde sind sie sich alle gleich.

Duchesne: Nein, der Westen, das Abendland, hat sich nicht erst seit der Neuzeit anders, sprich moderner, entwickelt als alle anderen Kulturen. Vielmehr ist hier schon seit prähistorischer Zeit eine Kultur entstanden, in der schließlich die Vernunft die zentrale Rolle spielt. Nur im Westen entstanden Institutionen, die der Vorstellung folgten, daß die Dinge aus Sicht der Vernunft zu beurteilen seien, ohne daß sich religiöse und politische Autoritäen einzumischen hätten.

Seit prähistorischer Zeit?

Duchesne: Gerne wird die Einzigartigkeit des Westens lediglich auf die letzten Jahrhunderte der Neuzeit, auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie reduziert. Nein, bereits lange zuvor war der Westen in zweierlei Hinsicht einzigartig: Zum einen durch die Etablierung der ersten liberalen und demokratischen Kultur, angefangen mit den griechischen und römischen Volksversammlungen, dann den Kommunen, Universitäten, Ständen des christlichen Mittelalters, den frühneuzeitlichen Parlamenten und Landtagen, den literarischen Zirkeln, Zeitungen und sonstigen Publikationen der Aufklärung. Zum anderen durch die großen schöpferischen Leistungen in Kunst, Geistes- und später Naturwissenschaften.

Was ist mit Weltkriegen, Holocaust, Kolonialismus, Sklaverei und Kreuzzügen?

Duchesne: Wissen Sie, der gleiche Geist, der die europäischen Eliten zu ausgesprochenen Kämpfern machte, erzeugte auch Individualismus und Freiheit. Die gleichen Nationen, die ständig Krieg führten, schufen auch das Kriegsrecht, das dem Krieg Grenzen setzte. Die gleichen Spanier, die das Amerika der Indianer eroberten, schufen auch die ersten Standards in Sachen Menschenrechte, nämlich in der Diskussion über die Behandlung der Eingeborenen.

Und all das soll nach Ihrer Ansicht in einer indoeuropäischen Kriegerkaste wurzeln?

Duchesne: Da findet sich der Ursprung dieser Entwicklung: im besonderen Geist der einzigartigen aristokratischen Kriegerkultur der prähistorischen Indoeuropäer. Ihr entsprang die einzigartige Intellektualität und künstlerische Kreativität der europäischen Kultur.

Wie denn das?

Duchesne: Zu meinem Verständnis ihres einzigartigen aristokratischen Temperamentes führten mich die Schriften fünf deutscher Gelehrter: Weber, Hegel, Spengler, Kant und Nietzsche. Sie beschreiben jenen speziellen Geist, den ich „faustisch“ nennen möchte und der diese Eliten vorwärtstrieb, der sie dazu brachte, Grenzen zu überschreiten, Neuland zu betreten, von unerschöpflichem Verlangen getrieben, jede Entbehrung auf sich nehmend, energiegeladen und von zäher Ausdauer die Grenzen der bekannten Welt zu überwinden, um dort ihre Herrschaft zu errichten.

Sie gehen einer prähistorischen Gesellschaft auf den Grund, indem Sie neuzeitliche Autoren lesen? Das klingt allenfalls nach Geschichtsphilosophie, aber nicht nach Geschichtswissenschaft. Und wie können Sie ausschließen, daß die Eliten anderer Kulturen nicht vom gleichen Geist beseelt waren und nur andere Gegebenheiten zu den anderen Resultaten führten?

Duchesne: Nehmen Sie etwa China: Auch die Chinesen betrieben Imperialismus, aber ihr Ausgreifen war vor allem von einem demographischen Druck gekennzeichnet, der sie über die Grenzen preßte. Wir haben bei weitem nicht so viele Berichte von einzelnen chinesischen Abenteurern, die auf der Suche nach Ruhm alle Grenzen und Ozeane überquerten und die Grundlagen für neue Imperien legten, wie das bei den Europäern der Fall ist. Nein, die rastlose schöpferische Tätigkeit des Westens rührt tatsächlich von jener aristokratischen und freiheitsliebenden Kultur der Indoeuropäer her, die mit ihrem Ethos eines heroischen Individualismus und ihrem Wetteifer um persönlichen Ruhm das Abendland von Anfang an zu etwas Besonderem machten.

Einerseits betonen Sie die Einzig- und Großartigkeit der westlichen Kultur, andererseits wollen Sie die westliche Kultur nicht als „besser“ verstanden wissen. Wie paßt das zusammen?

Duchesne: Problemlos. Aber ich gestehe Ihnen gerne ein, daß meine Position eine Deutung ist, ich nicht neutral bin, sondern eine größere Begeisterung für den Westen empfinde. Ich deute die westliche Kultur als großartiger, weil sie Freiheit und Vernunft in den Mittelpunkt stellt. Und natürlich präferiere ich diese Werte, weil ich mich in ihnen zu Hause fühle. Folglich stehe ich persönlich, aber nicht als Historiker auf dem Standpunkt, daß der Westen die bessere Kultur an sich hat. Und tatsächlich wäre eine Welt, die durch und durch verwestlicht wäre, eine kulturell ärmere Welt.

Sie kritisieren, im Westen würde die Einzigartigkeit unserer Kultur im Zuge der Multikulturalisierung verschwiegen und verschleiert. Andererseits führen wir Kriege und üben über internationale Organisationen wie die Uno ungeniert Druck aus, um unsere Werte weltweit durchzusetzen. Wie ist das zu erklären?

Duchesne: Die Rechtsliberalen, auch „Neokonservatie“ genannt, vertreten die Ansicht, daß wir stolz auf unseren Lebensstil sein und ihn für überlegen halten können, und sie haben die Vorstellung, daß alle Menschen, wenn sie nur könnten, ihre Werte übernehmen würden. Sie haben ihre Kriege im Irak und in Afghanistan in dieser Annahme geführt. Die Linksliberalen dagegen lehnen solchen „Eurozentrismus“ meist ab und propagieren einen kulturellen Relativismus. Gleichzeitig aber ist genau das eine einzigartig westliche Idee, die eine Bedrohung für alle anderen Kulturen darstellt, die das Konzept eines solchen Relativismus nicht kennen.

Also ein Widerspruch?

Duchesne: Ganz ohne Zweifel – und nicht der einzige: So verdammen die Linksliberalen den westlichen Hochmut, sich für die fortschrittlichste Zivilisation zu halten. Halten aber ihre eigene – durch und durch westliche – selbstkritische Haltung für die fortschrittlichste überhaupt. Sie lesen Herders Lob der Vielfalt der Völker und Kulturen ohne zu bedenken, daß Herder da eine sehr westliche Sicht der Dinge zum Ausdruck bringt. Die Linksliberalen scheinen blind gegenüber dem Umstand, daß ihre Vorstellung selbst einen universalen Anspruch hat – den sie sonst an der westlichen Kultur kritisieren. Aber ihr Relativismus macht sie nicht nur blind gegenüber ihrem universalistischen Anspruch, sondern auch gegenüber der Tatsache, daß die westliche Kultur tatsächlich ebenso einzigartig ist wie jede andere Kultur. So kritisieren sie den Westen deshalb als arrogant – doch tatsächlich hat sich der westliche Lebensstil auf der ganzen Welt verbreitet. Warum wohl? Das aber macht sie nicht nachdenklich. Und trotz dieser Tatsache sind sie schnell damit, Weiße als „Rassisten“ zu beschimpfen, wenn diese darauf verweisen, daß ihre Kultur einzigartig sei. Und es wird noch absurder: Denn natürlich erwarten Linksliberale von Nicht-Weißen keinswegs, daß sie so selbstkritisch sind wie die Weißen. Daß etwa die Japaner keine Einwanderung wollen, ist ihnen nachvollziehbar, schließlich sind die Japaner Japaner. Wenn die Briten ebenso argumentieren, dann aber ist das „Rassismus“. Offensichtlich halten die Linksliberalen Weiße also doch für überlegen, wenn sie von ihnen Standards erwarten, die sie zum Beispiel von Japanern nicht erwarten zu können glauben.

Fazit?

Duchesne: Jene, die den Westen für arrogant halten und seine Dominanz angeblich ablehnen, und jene, die ihn für überlegen halten und von der Berechtigung seiner weltweiten Ausbreitung überzeugt sind, gehören zum gleichen Lager, zu jenem, das der Welt westliche Werte aufzwingen will. Während gleichzeitig zu Hause der Westen durch den Multikulturalismus entwertet wird.

Was verstehen Sie darunter?

Duchesne: Man muß unterscheiden zwischen Gesellschaften, die multikulturell sind, und solchen, in denen Multikulturalismus die Gesellschaftsideologie ist. Es gibt auf der Welt etliche multikulturelle Gesellschaften, aber nur im Westen gibt es die doktrinäre Vorstellung von einer multikulturellen Gesellschaftsordung. Multikulturalismus beschreibt also nicht eine Realität, sondern ein Programm, nach dem die Realität umgestaltet werden soll.

Sie nennen den Multikulturalismus in Ihrem Buch „antieuropäisch“.

Duchesne: Ja, denn heute wird die Historie so umgedeutet, also ob die westlichen Länder schon immer auf Einwanderer hinzielten. Aber die Schöpfer der europäischen Staaten, ebenso wie der USA oder Kanadas, waren keine „Einwanderer“, sondern Siedler. Sie wechselten nicht von einer Nation in eine andere, sondern sie schufen sie ex nihilo. Daß dieser Unterschied verwischt wird, ist kein Wunder, dient der Multikulturalismus doch nicht etwa dazu, die kulturelle Vielfalt zu feiern, sondern dazu, die Beziehung der Einheimischen zu ihrem Mutterland zu negieren und letztendlich abzuschneiden. Daß dies tatsächlich gegen die Einheimischen gerichtet ist, sehen Sie auch daran, daß wer die Einwanderung kritisiert, als „fremdenfeindlich“ mundtot gemacht wird.

Interessant ist, daß Sie Multikulturalismus als „Geschichtsrevisionismus“ bezeichnen.

Duchesne: Multikultureller Revisionismus ist das Bestreben, eine Geschichtsschreibung durchzusetzen, in der die westliche Zivilisation nur noch als eine unter vielen erscheint. Und ich sage Ihnen, der multikulturelle Revisionismus dominiert inzwischen die zeitgenössische Geschichtsschreibung! Denn heute fühlen sich nordamerikanische Hochschullehrer dabei unwohl, ihre Studenten – von denen die Mehrzahl weiblich ist – damit zu konfrontieren, daß beinahe jeder große Kopf in der Geschichte ein männlicher war. Und noch unangenehmer ist es ihnen in ihren multirassischen Klassen, daß diese Männer ganz überwiegend Europäer waren. Und so werden europäische Ideen, die einmal im Kontext einer spezifischen europäischen Kultur standen, zu „menschlichen“ Ideen einer universalen Kultur umgedeutet, um ihren „peinlichen“ Ursprung zu verdecken. Es gibt zahlreiche Werke, die das historische Material gezielt mißinterpretieren, um zu multikulturellen Schlußfolgerungen zu kommen.

Sie fordern eine Rückkehr zu einem „eurozentrischen Geschichtsbild“. Ist das angesichts der Globalisierung nicht absurd?

Duchesne: Mit der Globalisierung ist der eurozentrische Blick ohne weiteres kompatibel, nur nicht mit der Ideologie des Globalismus. Daß man in einer Globalisierung der Märkte und des Austausches nicht zwangsläufig auch seine Kultur globalisieren muß, zeigt, daß Länder wie Japan, Indien, China oder Südkorea intensiv und erfolgreich an der Globalisierung teilnehmen, aber nicht im mindesten globalistische Ideen wie Einwanderung und Multikulturalisierung übernehmen. Nein, zu glauben, das tun zu müssen, ist die ideologische Idee von Rechts- und Linksliberalen, die durch eine Rückkehr zum Eurozentrismus gestoppt werden könnte.

 

Prof. Dr. Ricardo Duchesne, ist Professor für Soziologie an der Universität von New Brunswick in Kanada. Außer über dreißig Artikeln in Fachzeitschriften publizierte er 2011 sein vielfach gelobtes Werk „The Uniqueness of Western Civilization “ („Die Einzigartigkeit der westlichen Zivilisation“) im renommierten Wissenschaftsverlag Brill Academics. Das Buch – das bislang keinen deutschen Verleger gefunden hat – lobt das Journal of World History als „sehr bereichernd“. Das International Journal of Comparative Sociology bescheinigt ihm, „viele provokative Fragen aufzuwerfen “ und „eindrucksvoll“ einen „sehr weiten Horizont zu eröffnen“. Die amerikanische „National Association of Scholars“ urteilt: „Duchesne ist kein Polemiker. Er hat argumentative Kraft und sein Buch ist Gelehrsamkeit der alten Schule ... professionell geschrieben, dicht argumentierend und reichlich belegend.“ Geboren wurde Ricardo Duchesne in Puerto Rico, zu seinem Geburtsjahr macht er allerdings keine Angaben.

Foto: Nachstellung europäischer Krieger (in Großbritannien): „Der aristokratischen Kriegerkultur entsprang die einzigartige Intellektualität und Kreativität der europäischen Zivilisation.“

 

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