© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Ihr alle werdet das kennen, diesen Moment, wo uns Worte in Büchern oder Filmen, im Theater oder in der Oper, urplötzlich und ganz unmittelbar berühren, in ihren Bann ziehen, ans Herz fassen. Gemeint sind damit nicht bekannte Aphorismen irgendwelcher Geistesgrößen, auch keine sprichwörtlichen Volksweisheiten oder Kalendersprüche, sondern unscheinbare Sätze, die sich nur aus dem jeweiligen Zusammenhang erschließen und allein in diesem blitzartig ihre Wirkung entfalten. In den meisten Fällen läßt sich nicht einmal sagen, warum das so ist. Wir nehmen nur wahr, daß sie uns aufmerken und innehalten lassen. Es ist eine mysteriöse Überwältigung, die da stattfindet.

Mir ging das zuletzt so vorigen Samstag im Kino bei einer Live-Übertragung aus der New Yorker Metropolitan Opera von Antonín Dvořáks Märchenoper „Rusalka“. Die klassisch-naturalistische Inszenierung von Otto Schenk aus dem Jahr 1993 verzaubert für sich schon, dazu noch Renée Fleming in der Titelrolle als unglücklich verliebte Nixe, die sich sehnlichst wünscht, eine menschliche Seele zu erhalten, um den Geliebten für sich zu gewinnen. Die Sache geht schief, und zu Beginn des dritten und letzten Aktes besingt die Verzweifelte ihr Schicksal, nach der Verzauberung durch die Hexe Ježibaba nicht mehr Wasserwesen sein zu können und fortan als todbringendes Irrlicht umherwandern zu müssen. An dieser Stelle erwischte es mich: „Kalte Wellen, werdet mein Grab.“

Zu Hause schlage ich im Libretto von Jaroslav Kvapil nach. Dort heißt es wörtlich, hier etwas gerafft wiedergegeben: „Kalte Wellen, eilt heran mein Grab zu sein! / Nirgends daheim, grausam verbannt (…) ewig soll ich verdammt nun sein. / Nirgends Heimat, da das Wasser wie / das Land mich von sich wies. / Kalte Wellen, zieht mich hinab, / zögert nicht, mein Grab zu sein!“

Die meisten „Rusalka“-Kenner verbinden mit dieser Rolle das „Lied an den Mond“. Es ist das bekannteste Stück aus dieser 1901 am Prager Nationaltheater uraufgeführten lyrischen Oper, eine Glanznummer. Mit diesem Lied drückt Rusalka ihre tiefe Sehnsucht nach Liebe aus. Renée Fleming singt es in dieser Inszenierung zartschmelzend auf einem Baum sitzend, der Mond strahlt auf sie herab. Es ist betörend.

Dennoch: Für mich wird „Rusalka“ auf ewig mit der Liedzeile „Kalte Wellen, werdet mein Grab“ verbunden bleiben. Sie hat sich in rätselhafter Weise unauslöschlich tief in die Seele gebrannt.

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