© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

Neue Deutung als Kriegspublizist
Nach hundert Jahren gelesen: Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“
Dirk Glaser

Das „liebe Eri-Kind“, Thomas Manns älteste Tochter Erika, hätte dessen im Ersten Weltkrieg entstandene „Betrachtungen eines Unpolitischen“ allzu gern aus der bald nach dem Tod ihres Vaters erschienenen Ausgabe der „Gesammelten Werke“ (1960) verbannt. Wie die große Verehrer- und Lesergemeinde des Nobelpreisträgers stufte sie diesen Text herab zum schnöden „Zeitdienst“, den man vom sozusagen für die Ewigkeit geschriebenen Erzählwerk getrost abtrennen und vergessen könne.

Vornehmlich als Ärgernis rezipierte auch die Thomas-Mann-Forschung die „Betrachtungen“, zumal dieses Erzeugnis eines mit der Feder geleisteten Kriegsdienstes für Armin Mohler Grund genug war, den Verfasser neben Ernst Jünger, Carl Schmitt und Oswald Spengler in die Galerie „herausragender Autoren“ der „Konservativen Revolution“ aufzunehmen. Mohlers Klassifizierung wirkte auf den „A-cappella-Chor unserer Yes-Männer“ (Arno Schmidt), jene auf ideologische Korrektheit getrimmten Germanisten und Historiker, die seit Jahrzehnten die Forschung zu „Thomas Mann und die Politik“ dominieren, noch heute als böse Provokation.

Eine erstaunlich aktuelle Zeit- und Krisendiagnose

Es darf nicht sein, daß die prominenteste Stimme in der Medienschlacht gegen das Deutschland Adolf Hitlers, daß Thomas Mann, der der plutokratischen „Führerdemokratie“ seines Idols Franklin D. Roosevelt Hymnen gesungen hatte, exakt in dem Biotop wurzeln soll, das gemäß angelsächsisch instruierter „Charakterwäsche“ (Caspar von Schrenck-Notzing) seit Martin Luther den Nährboden für den Nationalsozialismus kultivierte. Der Potsdamer Zeithistoriker Manfred Görtemaker wollte daher ganz salopp in den „Betrachtungen“ nichts anderes als nur „abstruse Gedanken“ („Thomas Mann und die Politik“, 2005) entdecken.

Reinhard Mehring wich in seiner Habilitationsschrift 2001 in fast groteske, dem „Zauberer“ untergeschobene Konstruktionen zur „politischen Philosophie“ aus. Und ein Nestor der ThM-Forschung wie Hermann Kurzke oktroyierte in der „Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe“, die 2009 auch die eher oberflächlich edierte Kriegsschrift Manns brachte, Manns Werk lasse sich, sofern er nicht ohnehin vornehmlich „narzißtisches Geistestheater“ spiele, mühelos in den „liberalen Diskurs“ einspeisen. Die Kontexte im Weltanschauungskampf um die „Ideen von 1914“ aus dem 1915 begonnenen, im September 1918 gedruckten Wälzer hat er dabei lieber ignoriert. Also war Thomas Mann schon seit 1915 auf dem schnurgeraden Weg zum im Schlagschatten Hollywoods residierenden Patent-Demokraten?

Wohl kaum, befindet der Philosoph Markus Kartheininger, der die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ unter dem Aspekt neu gelesen hat, was sie denn für das Problem von „geistiger Freiheit und Demokratie“ eigentlich hergeben (Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 54, 2013). Jedenfalls enthielten sie nichts, was Kurzkes Urteil bestätigt, deren Urheber für partiell „politisch unzurechnungsfähig“ zu erklären. Vielmehr finde man hier, vor dem Hintergrund der ersten Globalisierung, eine erstaunlich aktuelle Zeit- und Krisendiagnose. Denn nur vordergründig handelt es sich um eine Verteidigung des preußisch-deutschen „Machtstaates“ und seines Militarismus gegen die auf Dämonisierungen der „Hunnen“ abonnierte angelsächsisch-französische Kriegspropaganda.

Tatsächlich verhandelt Thomas Mann die politischen Grundfragen und Aporien moderner Existenz. Angelpunkt der „Betrachtungen“ sei die Bestimmung des „richtigen“, humanen Verhältnisses zwischen individueller, geistiger Freiheit und gesellschaftlicher Bindung. In den westlichen Demokratien habe man die staatliche Ordnung auf die Aufgabe reduziert, formale Bedingungen für individuelles Glücksstreben zu schaffen und zu garantieren. Der Staat setzt den Rahmen für die Selbsterhaltung seiner Bürger, für die mittelalterlich von der Religion bediente „Sinnerfüllung“ fühlt er sich hingegen unzuständig.

Die frühneuzeitlichen Politikentwürfe des Westens lösen das Gemeinwesen daher aus dem „ganzheitlichen Horizont“ von Geist, Religion, Wahrheit, Ethik, koppeln den Staat von den tradierten „substantiellen“ Lebensformen ab. Einerseits mit der Folge der Kommerzialisierung des Lebens, die Sinnerfüllung allein im Konsum verheißt, der ständig neue, unbefriedigt bleibende Bedürfnisse erzeuge. Ein Teufelskreis, der, wie der hier an Nietzsche geschulte Thomas Mann folgert, „zur Verewigung des Nützlichkeitshaders und zur Verzweiflung führt“. Andererseits bringe die „Entfesselung der Privatperson“ ungeachtet staatlicher Zurückhaltung nicht automatisch individuelle Freiheit und kulturelle Vielfalt. Vielmehr breite sich, wie Alexis de Toqueville schon 1830 an der US-Demokratie beobachtete, eine Kollektivierung des Denkens und Fühlens in modernen Massengesellschaften epidemisch aus.

Idee der Kulturnation gegen kapitalistische Vernutzung

Obwohl Thomas Mann erkannte, wie stark sich Bismarcks Kaiserreich beim Aufstieg zur führenden Industrie-, Wirtschafts-, Wissenschafts- und Militärmacht der homogenen „Weltzivilisation“ angepaßt hatte, glaubte er die deutsche „Kulturnation“ als Zentrum des Widerstands gegen die westlichen Schrittmacher der Nivellierung, den „seelischen Konservativismus“ des Obrigkeitsstaates als Hort „spezifisch humanen Lebens“ gegen die alle Daseinsformen ökonomisierenden Plutokratien des Westens verteidigen zu dürfen.

„Gewiß“, so räumt Kartheininger freimütig ein, sei der „‚seelische Konservativismus‘“ des deutschen „Menschheitsvolkes“, für dessen geistige Elite es auch 1914 noch Statthalter der antiken und christlichen Kultur Europas war, der westlichen Demokratie „überlegen“ gewesen, weil es sich gegen die totale kapitalistische Vernutzung des Menschen sperrte. Aber nur in der idealen Konstruktion Thomas Manns. Die Gegenprobe bestehe sie indes nicht, da sie kein realitätstüchtiges politisches Konzept anbiete, das die liberal-kapitalistische Demokratie ersetzen könne.

Kartheininger ist nicht der erste, der das aktualisierbare demokratiekritische Potential der „Betrachtungen“ erschließt und seine „antitotalitäre“ Stoßrichtung exponiert. Er zitiert Jens Nordalm als seinen Vorläufer, verschweigt aber andere wie Dieter Borchmeyer, Stefan Breuer und vor allem Berndt Herrmann mit seiner Augsburger Dissertation über den „heiteren Verräter“ Thomas Mann (2005). Obwohl damit die neue Deutung Manns als Kriegspublizist noch eine Minderheitsmeinung ist, erscheint der „Meister der konservativen Humanität“ (Kurzke) schon mit scharfen Konturen als der authentische „konservative Revolutionär“, während das Gros des Personals in Mohlers „Handbuch“ zumindest zeitweilig dem Sinnversprechen jener „totalen“ Ordnungsentwürfe erlag, die im „Zeitalter der Extreme“ als Alternativen zur „totalitären Demokratie“ auftauchten, der sich Thomas Mann erst im US-Exil in die Arme warf.

www.duncker-humblot.de

Foto: Thomas Mann um 1900: Deutschland als Zentrum des Widerstands gegen die westlichen Schrittmacher der Nivellierung

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