© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

Die Lizenz zum Töten und NDR 2 im Ohr
Der Publizist Peter Joachim Lapp hat eine voluminöse Geschichte der Grenztruppen der DDR vorgelegt
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Zu Recht wird Peter Joachim Lapp als der führende Kenner in Fragen der DDR-Grenzen angesehen. Nach seinen vielen Publikationen, darunter auch im Ausland geschätzten Bildbänden, hat er nunmehr sein Wissen in einem umfassenden, schwergewichtigen Kompendium vorgelegt. Schon vor 1989 verfügte der Westen über ein gutes Bild. Vertiefende Einblicke brachten die späteren Gerichtsprozesse gegen die Verantwortlichen, die Mitglieder des SED-Politbüros bis hin zu den „Mauerschützen“. Nicht uninteressant sind ebenfalls die heutigen Darstellungen einstiger Spitzenfunktionäre.

Vor jenem 13. August 1961 flohen wenigstens 2,5 Millionen DDR-Bewohner in den Westen. Nach dem Bau der Mauer und dem immer weiteren Ausbau der Grenzabsperrungen wurden von „Grenzverletzern“ allgemein neunzig Prozent gestellt. Der Befehl, eine solche Flucht zu verhindern, gab den Grenzsoldaten praktisch eine „Lizenz zum Töten“. Dennoch wendet sich der Autor, der selber jahrelang politischer Häftling in der DDR war, gegen den Begriff „Mördertruppe“: Die große Mehrheit der insgesamt über 500.000 Grenzsoldaten fürchtete sich vor solchen „Grenzzwischenfällen“.

Niemand wurde für das Danebenschießen bestraft

Zugleich hebt er deutlich hervor, daß man sich sehr wohl dem Dienst in den grenzsichernden Einheiten entziehen konnte. Ebenso sind keine Fälle bekannt, daß Grenzsoldaten bestraft wurden, die eine Flucht nicht verhindern konnten – der erforderliche Vorsatz (also absichtlich danebengeschossen zu haben) war kaum nachzuweisen. Der Verfasser weiß von Bestrebungen opponierender Offiziere zu berichten, die in dem Töten an der Grenze einen Widerspruch zum Völkerrecht sahen und – indes vergeblich – für eine „Humanisierung“ der Grenzanlagen eintraten. Das Buch beinhaltet jedoch primär eine bis ins einzelne gehende Darstellung des Grenzregimes.

Es begann 1947 mit der Anweisung der SMAD, „Organe zum Schutz der SBZ“ zu schaffen. Zwei Jahre später gab es den ersten Toten, zunehmend wurde das sowjetische Grenzsicherungssystem auf die DDR übertragen. 1957 führte man die militärische Ausbildung der Grenzpolizei ein, die bald „Grenztruppen“ hieß. Anfang 1961 standen 20.068 Bewaffnete an den Grenzen. Von der Errichtung des „Antifaschistischen Schutzwalls“ bis Herbst 1989 mußten mindestens 1.676 Menschen ihren Versuch, in den Westen zu gelangen, mit dem Leben bezahlen. Andererseits gab es 40.104 erfolgreiche „Sperrbrecher“. 84.249 DDR-Bewohner wurden als „Grenzverletzer“ verhaftet, die Gesamtzahl der wegen versuchter Republikflucht Verurteilten schätzt der Autor auf zehntausend. Von den Grenzsoldaten desertierten 2.789. Über die Ostblockstaaten flohen knapp 8.000 DDR-Bürger, als noch schwieriger erwies sich der Weg über die Ostsee.

Der Leser erfährt ebenfalls alle Einzelheiten über die Unterstützungskräfte der Grenzsoldaten, seien es die „Freiwilligen Helfer“, die vielen Hundestaffeln oder die „Grenzaufklärer“, die primär die Bundesrepublik im Visier hatten. Erich Honecker, der 1971 forderte, „überall muß ein einwandfreies Schußfeld gewährleistet sein“, befahl in den achtziger Jahren den Abbau der Minen und der Selbstschußanlagen an der Grenze. Was ihn zu dieser einsamen Entscheidung veranlaßte – erste Pläne sind von 1982, also bereits vor Verhandlungen über bundesdeutsche Milliardenkredite –, die nicht mit den Sowjets abgesprochen war, konnte nie geklärt werden. Diese überraschenden Schritte führten aber zur tiefen Verunsicherung der Grenzsoldaten.

Deren „Binnenklima“ sollte nicht nur auf Befehl und Gehorsam bestehen, Ziel war die Überzeugung des Soldaten vom Sinn der einzelnen Maßnahme. Bei Unregelmäßigkeiten (zumeist Alkoholmißbrauch, Verstöße gegen Vorschriften) erwiesen sich die Vorgesetzten oft als sehr nachsichtig, weil sie bei strengerer Behandlung Fahnenflucht befürchteten. Eine solche geschah überwiegend nicht aus politischen Gründen, sondern aus persönlichen Konfliktsituationen. Der Polit-Unterricht verlangte, den westdeutschen Feind „abgrundtief zu hassen“. Ob er nachhaltigen Einfluß hatte, muß eher bezweifelt werden, allmonatlich wurden etwa 1.000 Fälle bekannt, bei denen Grenzschützer verbotene westliche Rundfunksendungen hörten.

Der Schießbefehl kam bereits 1960 auf: Er verlangte das Schießen, „wenn keine andere Möglichkeit zur Verhinderung der Flucht bestand“. Bei hohem Staatsbesuch in der DDR wurde er ausgesetzt; endgültig aufgehoben wurde er aber erst am 17. November 1989. Eigentlich hatte Ost-Berlin ihn spätestens bei Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte in Helsinki 1975 einstellen müssen.Bis zuletzt wurden Mauerschützen aber mit Geldprämien, Medaillen und vorzeitiger Beförderung belohnt.

Der Fall der Berliner Mauer kam für alle Grenzsoldaten völlig überraschend. In der Folgezeit wurden einige Befehlsgeber zu Gefängnisstrafen bis zu sieben Jahren verurteilt. Kein Todesschütze an der Mauer erhielt dagegen eine Gefängnisstrafe. Nachdem 1994 ein Urteil von dreieinhalb Jahren gegen den Todesschützen von Chris Gueffroy vom Bundesgerichtshof kassiert wurde, kamen alle „Mauerschützen“ bis zum letzten Prozeß 2004 mit Bewährungsstrafen davon.

Peter Joachim Lapp: Grenzregime der DDR. Helios Verlag, Aachen 2013, gebunden, 617 Seiten, 35,80 Euro

Foto: Einweisung von DDR-Grenztruppen, Ost-Berlin 1976: Honecker forderte „einwandfreies Schußfeld“

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