© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

Die Mutter aller Sturmfluten
Die Julianenflut vor 850 Jahren und ihre Folgen für die norddeutsche Küstenlandschaft
Matthias Bäkermann

Bereits am 12. Februar war die gesamte deutsche Nordseeküste von einer schweren Flut betroffen. Am 16. Februar erreichte das Sturmfeld des von Island über das Europäische Nordmeer nach Schweden ziehenden Tiefdruckgebietes die südliche Nordsee. In den späten Abendstunden wurde zwischen Zuidersee und Dänemark eine Windzunahme auf Orkanstärke sowie eine Drehung auf nordwestliche Richtungen beobachtet. Die aufgepeitschte See gehorchte dort nicht mehr den Gesetzen von Ebbe und Flut, sondern verharrte an den Küsten. In der Nacht zum 17. Februar sollte es dann zum Äußersten kommen.

Tage später bot sich an vielen Orten Norddeutschlands ein katastrophales Bild: Überschwemmte Landschaften, gewaltige Zerstörungen durch die Wucht der ungebändigten Meeresbrandung und insgesamt 340 Tote waren zu beklagen. Diese Sturmflut von 1962 ist bis heute unvergessen. Danach sollte es zwar noch eine ganze Reihe von – teilweise schwereren – Sturmfluten geben, allerdings konnten die seitdem verstärkten Deiche und Küstenbefestigungen der wilden Nordsee immer wieder trotzen.

Im Mittelalter war die Küste weitestgehend schutzlos

Am Tag der Heiligen Juliana, genau 798 Jahre vor dem Orkan von 1962, sah die Lage gänzlich anders aus. Die Küste zwischen Holland und Nordfriesland war ungeschützt, Deiche fast nirgends vorhanden. Wie der Chronist Helmold von Bosau in der Chronica Slavorum wenige Jahre nach dieser Katastrophe vom 16. und 17. Februar 1164 niederschrieb, habe die Julianenflut 20.000 Menschen und viele tausend Stück Nutztiere das Leben gekostet. Man darf annehmen, daß diese Zahl keine verläßliche Größe angibt, sondern eher als Synonym für die gewaltige Zahl an Opfern gelten kann, die weite Landstriche an der Nordseeküste fast entvölkerte – wenn nicht direkt durch die Flut, dann spätestens durch den Verlust ihres Viehs, das für die Marschenbewohner die Lebensgrundlage darstellte.

Am schwersten dürften dabei die Regionen zwischen Ems- und Elbemündung betroffen worden sein. Aber auch in Nordfriesland richtete die Flut großen Schaden an. Die Existenz von Amrum oder Sylt als Inseln wie auch die künftige Küstenlinie zwischen Ems- und Wesermündung bahnten sich nach den verheerenden Meereseinbrüchen an den weitgehend ungeschützten Gestaden bereits an. Der friesische Abt Emo von Wittewierum, Verfasser eines Augenzeugenberichts über die schlimme Erste Marcellusflut 1219, datierte diese auf das 55. Jahr nach der Julianenflut. Ihm galt diese Katastrophe als Fixpunkt der Chronologie, praktisch als Mutter aller Sturmfluten. In der südlichen Nordsee brach die Julianenflut zwischen den bereits befestigten Wurten oder Warften der Bauernschaften der Küstenmarschen hindurch und erreichte die südlich davon liegenden ausgedehnten Hochmoore.

Dieses Phänomen zeigte sich am deutlichsten dort, wo sich östlich von Wilhelmshaven noch heute die Bucht des Jadebusens öffnet. Dort zwischen den Marschendörfern Dauens und Hummens entstand ein tief einschneidender Meeresarm in Richtung Süden. Dieser ließ sich nie mehr schließen. In den folgenden vier Jahrhunderten – bis man in der Frühen Neuzeit mit großangelegten Eindeichungsprojekten begann – konnte die Nordsee diese Bucht immer mehr erweitern. Letztlich mußten auch Dauens und Hummens auf ihren in Jahrzehnten, teilweise sogar in Jahrhunderten, angelegten Erhebungen aufgegeben werden und versanken in der heutigen Jademündung.

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