© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/14 / 21. Februar 2014

2014 als Wendejahr der Geschichtspolitik
Aus dem Schatten treten
Peter Kuntze

An den Deutschen in Ost und West ist mit durchschlagendem Erfolg jenes Konzept exekutiert worden, das Walter Lippmann den historischen Siegern zugeschrieben hat. Der 1974 verstorbene US-Journalist und Pulitzer-Preisträger hatte erklärt: „Der Sieg über ein Land ist erst dann vollständig, wenn die Kriegspropaganda der Sieger Eingang in die Schulbücher des besiegten Landes gefunden hat und sie von den nachfolgenden Generationen als unbestreitbare Wahrheit geglaubt wird.“ Offen bleibt, ob sich Lippmann hatte vorstellen können, wie rasch und mit wie vielen willigen Helfern im Inland dieser Prozeß vonstatten ging. Sollte er indes Napoleons Testament von 1818 gelesen haben, wäre er nicht allzu erstaunt gewesen. Über den deutschen Nationalcharakter schrieb der Korse, er habe noch nie ein politisch naiveres und gutgläubigeres Volk angetroffen als die Deutschen, die den Lügen der Sieger mehr glaubten als ihren eigenen Landsleuten.

Mit den drei herausragenden Gedenktagen (Beginn des Ersten Weltkrieges, des Zweiten Weltkrieges sowie Ende des Kalten Krieges aufgrund des Mauerfalls) könnte das Jahr 2014 jedoch später einmal als Wendepunkt in der deutschen Geschichtspolitik gelten. Historiker werden das Jahr vielleicht als jenen Zeitpunkt einordnen, an dem das fast fünfzig Jahre währende linke und linksliberale Deutungsmonopol zu erodieren begann und die Gesundung der nationalen Psyche einsetzte, die durch einen permanenten Schuldmoralismus pathologisiert worden ist.

Gewiß, die Zeichen für eine derartige Kehre sind schwach, doch sie sind nicht zu übersehen. Der Anstoß kommt in erster Linie aus dem Ausland, was angesichts des hierzulande weitgehend gleichgeschalteten Geistesklimas nicht verwunderlich ist. An erster Stelle ist Christopher Clarks Opus „Die Schlafwandler“ zu nennen. Darin weist er die von den Entente-Mächten in die Welt gesetzte These der Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg als Propaganda­lüge zurück.

Welch verhängnisvolle Rolle diese These als Dreh- und Angelpunkt der deutschen Tragödie bis heute spielt, machte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (4. Januar 2014) deutlich. Geblieben, so Münkler, sei von jener These „weniger Erkenntnis als eine lange Lernblockade, ausgedrückt in der Überzeugung: Der deutsche Militarismus und Imperialismus oder Kapitalismus hat zweimal nach der Weltherrschaft gegriffen, und unsere Aufgabe ist es, ihn nie wieder hochkommen zu lassen. Das war nach den Verbrechen des Nationalsozialismus gutgemeinte Psychologie, aber keine Wissenschaft.“ Es lasse sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hege, wir Deutsche seien an allem schuld gewesen. Bezogen auf 1914 sei das jedenfalls eine Legende.

Ohne das Diktat von Versailles, das seinerzeit von allen politischen Kräften – ob Nationalisten oder Kommunisten – unisono als „Schandvertrag“ verurteilt wurde, wäre der Aufstieg Hitlers nicht möglich gewesen. Am 30. Januar 1937, exakt vier Jahre nach seiner Machtübernahme, erklärte Hitler vor dem Reichstag: „Als ich vor vier Jahren mit der Kanzlerschaft und damit mit der Führung der Nation betraut wurde, übernahm ich die bittere Pflicht, ein Volk wieder zur Ehre zurückzuführen, das fünfzehn Jahre lang das Leben eines Aussätzigen unter den anderen Nationen zu führen gezwungen worden war.“ Durch Wiederbewaffnung, Einführung der Wehrpflicht und Besetzung des Rheinlandes durch eigene Truppen sei die deutsche Gleichberechtigung wiederhergestellt worden. Daher, so Hitler, „ziehe ich vor allem aber die deutsche Unterschrift feierlichst zurück von jener damals einer schwachen Regierung wider deren besseres Wissen abgepreßten Erklärung, daß Deutschland die Schuld am Kriege besitze!“

Das Euro-Abenteuer und die ungewisse Zukunft der EU werfen so existentielle Fragen auf, daß sich eine verantwortungsvolle Politik diesen Herausforderungen stellen muß, will sie das Schicksal ihres Landes noch selbst bestimmen. Die Zeit drängt.

Da die Nationalsozialisten schon 1936 die sechs Millionen Arbeitslosen wieder in Lohn und Brot gesetzt hatten und im Reich allmählich ein bescheidener Wohlstand bei stabilen Löhnen und Preisen herrschte, stand Hitler 1938 – nach dem Anschluß Österreichs – auf dem Höhepunkt seiner Macht. Der Publizist Sebastian Haffner resümierte daher für das Frühjahr 1939: „Die so durch den Augenschein Hitlerscher Leistungen Bekehrten oder Halbbekehrten wurden im allgemeinen keine Nationalsozialisten; aber sie wurden Hitleranhänger, Führergläubige. Und das waren auf dem Höhepunkt der allgemeinen Führergläubigkeit sicher mehr als neunzig Prozent aller Deutschen“ („Anmerkungen zu Hitler“).

Demgegenüber wurde im Zuge des nachholenden Widerstands und des kommunistischen (Ost) und des links­liberalen (West) Deutungsmonopols allen spätestens ab 1935 Geborenen eingeredet, ihre Eltern und Großeltern seien Verbrecher gewesen, mindestens aber Wegbereiter und Mitläufer von Massenmördern – in der Retrospektive und im Wissen um das spätere Auschwitz eine wohlfeile Behauptung.

Wie tief die Ideologisierung der Geschichte in manche Psyche eingedrungen ist, offenbarte eine Kulturredakteurin der Süddeutschen. Sie führte ein langes Interview mit dem englischen Architekten David Chipperfield, der das Haus der Kunst in München sanieren soll, das 1937 in Anwesenheit Hitlers mit der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ eröffnet worden war. Hartnäckig wies sie Chipperfield immer wieder darauf hin, daß der Bau politisch kontaminiert sei. Doch der Brite ließ sich nicht beirren: „Unabhängig davon, wie stark dieses Gebäude durch die Geschichte belastet ist – die Räume haben eine Neutralität (...). Es gibt einen Spruch: Egal, was vorher war, es sind immer noch Steine und Holz“ (SZ, 3. Januar 2014). Fast, so scheint es, würden manche in ihrem antifaschistischen Furor am liebsten sogar das Einmaleins und das ABC verbieten, weil diese Kulturtechniken auch von Nationalsozialisten benutzt wurden.

Gleichgültig, welche Überraschungen dieses Gedenkjahr noch bringen mag – mit der Entlarvung der das deutsche Verhängnis auslösenden Alleinschuldthese als perfides Propagandakonstrukt ist zumindest ein Anfang gemacht. Vielleicht unterziehen ja mutige Historiker auch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einer sachlichen Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des chauvinistischen Polens der Zwischenkriegszeit (siehe auch Seite 21 dieser Zeitung) und der doppelzüngigen Diplomatie der damaligen westlichen Demokratien. Hierbei geht es nicht um eine Revision der Geschichte – der Holocaust als deutsches Jahrhundertverbrechen bleibt unbestritten –; worauf es einzig und allein ankommt, ist die ehrliche und vorurteilsfreie Darstellung der historischen Fakten und die Beendigung ihrer Instrumentalisierung zu ideologiepolitischen Zwecken. In der Außenpolitik hat der antifaschistische Furor mittlerweile zu einem besserwisserischen Großmaul-Moralismus geführt.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und dem Ende der Spaltung Europas in zwei feindliche Machtblöcke wäre es längst an der Zeit, auch Deutschlands Rolle neu zu definieren. Das Euro-Abenteuer und die ungewisse Zukunft der EU werfen so existentielle Fragen auf, daß sich eine verantwortungsvolle Politik diesen Herausforderungen stellen muß, will sie das Schicksal ihres Landes noch selbst bestimmen. Die Zeit drängt: Sowohl die Souveränität des Staates als auch der bislang erwirtschaftete Reichtum seiner Bürger sind akut bedroht. Doch die politische Klasse und ihre medialen Lautverstärker halten trotz völlig veränderter Grundbedingungen an jenem Kurs fest, den Sebastian Haffner schon 1964 der damaligen Bundesrepublik als „Integrationssucht“ vorwarf, da sie „verzweifelt nach einem amerikanisch­-atlantischen oder französisch-europäischen Großreich sucht, dessen Gliedstaat sie ihrerseits werden könnte“. („Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“)

Umgeben von Freunden, könnte Berlin durch seinen Einfluß in Europa eine gewichtige Rolle als traditioneller Mittler zwischen Ost und West spielen und müßte nicht gewärtigen, in der EU eines Tages als „Deutschland“ von der Landkarte zu verschwinden.

Diese Strategie der „Anbiederung und Angliederung“ (Haffner) war Ausdruck einer moralischen Schwäche, die in der Selbstaufgabe der Nation die Erlösung ihrer angeblich verfehlten Existenz suchte. Heute wird jene Strategie überhöht zu einem globalen Konzept, um der Utopie der „One World“ näher zu kommen – der von Linken und Linksliberalen gleichermaßen angestrebten staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft.

Gregor Gysi sprach sicher auch im Sinne liberaler Kosmopoliten, als er Anfang Januar auf dem Programmkongreß seiner Partei erklärte: „Für uns linke Internationalisten gibt es kein Zurück zum früheren Nationalstaat. Wir müssen Befürworter der europäischen Integration sein. Wir müssen sie als linke Idee schon deshalb wollen, weil es aus friedenspolitischen Gründen nicht anders geht. Und weil die alten Nationalstaaten allein überhaupt keine Chance mehr haben, politisch und ökonomisch wirksam zu sein.“

Selbst Gysis letzter Satz ist bloße Ideologie – wie auch die stete Behauptung sämtlicher Volksvertreter, angesichts der Weltmächte USA und China könne ein Staat wie Deutschland nur im europäisch-atlantischen Verbund bestehen. Japan, Südkorea und sogar die kleine Schweiz, die im Sommer letzten Jahres ein Freihandelsabkommen mit China geschlossen hat, beweisen, daß es auch weitgehend allein geht. Unmöglich jedoch ist es, in der Sackgasse des nationalen Nihilismus zu verharren und sich zum Spielball fremder Interessen machen zu lassen – wie etwa jener Frankreichs, seine postkolonialen Ambitionen in Zentralafrika zu „europäisieren“.

Ökonomisch hat Deutschland seine einstigen Rivalen Frankreich und Großbritannien hinter sich gelassen und ist auf dem Kontinent wieder die stärkste Wirtschaftsmacht – trotz zweier verheerender Waffengänge, die, einem angeblichen Wort Churchills zufolge, das Ziel hatten, den Emporkömmling von 1871 in einem „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ niederzuringen. Politisch ist der Einfluß Deutschlands in der Welt heute größer als zur Blütezeit des Kaiserreichs; zu verdanken ist dies nicht zuletzt auch der allseits anerkannten Aufarbeitung des dunklen Kapitels seiner Geschichte. Da Deutschland militärisch seit langem bedeutungslos ist und es aus historischen und mentalen Gründen auch bleiben wird, müßten seine Nachbarn den Alleingang somit nicht fürchten.

Umgeben von Freunden, könnte Berlin in Europa eine gewichtige Rolle als traditioneller Mittler zwischen Ost und West spielen und müßte nicht gewärtigen, in der EU eines Tages als „Deutschland“ von der Landkarte zu verschwinden, weil Brüssels langfristiges Ziel auf die Wiederherstellung der unseligen Kleinstaaterei hinausläuft – drapiert als „Europa der Regionen“. In Wahrheit wäre dies der dritte und dann wohl erfolgreiche Versuch, die Reichsgründung von 1871 und damit die Staatsbildung der Deutschen ein für allemal rückgängig zu machen.

 

Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die antiken Wurzeln linker Gesellschaftsziele („Fatales Vermächtnis“, JF 44/13).

Foto: Bundesadler im Sonnenschein, Einfahrt zur Villa Hammerschmidt, Bonn: Man zündet nicht ein Licht an, um es dann unter den Scheffel zu stellen

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