© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/14 / 21. Februar 2014

Der Flaneur
Einladung zum Klassentreffen
Paul Leonhard

Irgendwie hatte ich an den Typen erst unlängst gedacht. Beim Flanieren durch das alte Viertel. Zwischen zwei Terminen war ausreichend Zeit. Von der einen S-Bahn-Station zur nächsten. Vorbei an den Stätten der Kindheit: Wo einst der von Trümmergrundstücken umsäumte Bolzplatz lag, stehen gesichtslose Bürogebäude. Die alte Fabrik hat immer noch keinen Käufer gefunden. Dafür ist vom Rumpelmännchen, von der Annahmestelle für Papier, Glas und Lumpen, keine Spur mehr zu entdecken.

Da kämpften Eltern mit harten Bandagen, setzten auf Parteiabzeichen und Dienstgrade.

Und jetzt trudelt eine Mail ein, von diesem Freund aus Kindertagen. Nicht an mich konkret gerichtet, eine Sammelnachricht. Ein Klassentreffen droht. Ich studiere die lange Liste mit E-Mail-Adressen, versuche, den Namen Gesichter zuzuordnen. Da ist Katharina. Ein dünnes, kesses Mädchen, die blonden Haare zum Zopf gebunden. Sie trug meist ein strahlend weißes Hemd mit dem Pionierabzeichen und zwei, nein, drei roten Balken. Die Freundschaftsratsvorsitzende. Hieß das so?

André war der Typ mit den abgeknabberten Fingernägeln, dem ich Nachhilfe geben mußte. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, daß man in fremden Wohnungen die Schuhe auszieht, was meine Eltern jedesmal zu verhindern suchten. Seine Socken stanken zum Himmel.

Sieben Jahre habe ich mit ihnen die Schulbank gedrückt, ehe ich umzog. Wir waren um die 30 Schüler. Mit einer von Ehrgeiz getriebenen jungen Klassenleiterin. In der achten Klasse sieben Schüler mit einem Notendurchschnitt von 1,0. Maximal drei hatten die Chance auf die weiterführende Schule. Da kämpften Eltern mit harten Bandagen, setzten auf Parteiabzeichen und Offiziersdienstgrade.

Was wird aus ihnen geworden sein? Ich bin nie wieder einem über den Weg gelaufen. Vor fünf Jahren war schon einmal ein Treffen. Ich habe lange gezögert, dann nahm mir eine Dienstreise die Entscheidung ab. Ich blieb als stummer Beobachter im Verteiler, schaute verwirrt die Fotos an, die eintrafen. Eine fröhliche Runde älterer Herrschaften. Nur langsam entzifferte mein Gedächtnis die Gesichter. Mein Gott, sind die alt geworden.

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