© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Auf die Wurzeln besinnen
Kulturhauptstadt Riga: Das Gemeinschaftsgefühl der Europäer soll gestärkt werden
Detlef Kühn

Die Hauptstadt Lettlands, Riga, wurde für das Jahr 2014 von den zuständigen Gremien der Europäischen Union (EU) – neben Umea in Nordschweden – zur Kulturhauptstadt Europas bestimmt. Der Titel, der ursprünglich bescheidener nur „Kulturstadt“ lautete, wird seit 1985 vergeben. 1988 war das damalige West-Berlin dabei; für 2016 kann sich schon Breslau im heutigen Polen darauf freuen, im Mittelpunkt des europäischen kulturellen Interesses zu stehen. Die Zielsetzung der EU ist klar: Das noch unterentwickelte Gemeinschaftsgefühl der Europäer soll gestärkt werden, indem man sich auf gemeinsame Wurzeln besinnt, gleichzeitig aber den einzelnen Städten und Regionen Gelegenheit gibt, sich mit ihren Beiträgen zur europäischen Vielfalt zu präsentieren. Das kann politisch durchaus heikel werden.

Die Kultur aller Teile Europas ist geprägt durch Einflüsse der Vergangenheit und der Gegenwart. Lettland und seine Hauptstadt bilden da keine Ausnahme. Riga wurde 1201 unter dem Schutz des Deutschritterordens von dem aus Bremen stammenden Bischof Albert mit deutschen Kaufleuten gegründet – an der Düna, die im westlichen Rußland, übrigens unweit der Quelle der Wolga, entspringt und hier in den Rigaschen Meerbusen als Teil der Ostsee mündet. Die Nachbarschaft zu Rußland war immer wichtig, in guten und schlechten Zeiten, auch wenn Riga als Hauptstadt des damaligen Livlands erst 1721 durch den Frieden von Nystad nach dem verheerenden Nordischen Krieg aus schwedischem in dauerhaft russischen Besitz überging.

Die Letten waren selten Herr im eigenen Haus

Erst 1918, nach dem auch von Rußland verlorenen Ersten Weltkrieg, bot sich für das lettische Volk die Chance der staatlichen Selbständigkeit als Krönung ihres „nationalen Erwachens“ im 19. Jahrhundert. Die Letten, ein kleines Volk mit kaum mehr als 1,5 Millionen Angehörigen, waren nur selten Herr im eigenen Haus. Über Jahrhunderte bestimmten vor allem Deutsche und dann auch Russen über die politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung im Lande. In Riga dominierten auch zahlenmäßig deutsche (Hanse-) Kaufleute, Handwerker und Akademiker (Literaten). Die Letten bildeten die dienenden Stände.

Auf dem Lande war es ähnlich. Die Gutsbesitzer von Adel waren meist Deutsche, ebenso die Pfarrer, Verwalter, Postmeister, Müller oder andere gehobene Handwerker. Die Letten bildeten den lange Zeit leibeigenen Bauernstand. Allerdings waren die Standesgrenzen immer in gewisser Weise durchlässig. Wer durch höhere Bildung aufstieg, ging allerdings dem Lettentum bis in das 19. Jahrhundert hinein fast immer verloren und wurde Deutscher.

Seit der Bauernbefreiung 1817, die auf Initiativen der in den Deutschen Provinzen des Russischen Reiches führenden Ritterschaften zurückging, hat sich das lettische Volk – ebenso wie die estnischen Nachbarn – im Laufe nur eines Jahrhunderts zu einer modernen Nation mit jetzt wieder eigenem Staat, leistungsfähigem Bildungssystem und einer Hochsprache entwickelt, die auch in der Kultur eigenständige Leistungen ermöglicht. Auf diese Entwicklung können die Letten zu Recht stolz sein, zumal es nicht nur im Zarenreich, sondern auch ab 1940 in der Sowjetunion nicht an Versuchen gefehlt hat, die kleinen Völker zu russifizieren.

Die lange Zeit dominierenden Baltendeutschen, deren Zahl in besten Zeiten höchstens 180.000 Einwohner auf dem Gebiet des heutigen Lettlands (und Estlands) ausmachte, verließen zum großen Teil bereits nach dem Ersten Weltkrieg, nach politischer Entmachtung und umfangreichen Enteignungen durch die nunmehr lettische Regierung, das Land. Der Rest folgte aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 zwanzig Jahre später. Auch diese Deutschen hatten aber viele Gründe, auf ihren Beitrag zur wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der heutigen baltischen Staaten stolz zu sein.

Orientierung an deutschen Vorbildern

Wer in diesem Jahr nach Riga reist, kommt in eine Stadt, die sich vor hundert Jahren stolz als „das Paris des Ostens“ bezeichnen ließ – und das war noch nicht einmal allzusehr übertrieben. Er kommt aber auch in eine Stadt, in der jahrhundertelang städtebauliche Entscheidungen vor allem von Deutschen getroffen wurden, die immer die Verbindung zum Mutterland aufrechterhielten und das, was sie auf Bildungs- oder Handelsreisen im Westen gesehen hatten, in die baltische Heimat übertrugen. Das Rechtssystem war sowieso – schon wegen der Zugehörigkeit zur Hanse – lübisch geprägt. Die imposanten Gebäude der Großen und der Kleinen Gilde für Großkaufleute und zünftige Handwerker zeugen, ebenso wie das wieder aufgebaute Schwarzhäupterhaus der jungen, unverheirateten Kaufleute, von dieser Geschichte.

Auch im kulturellen Bereich riß die Verbindung zu Deutschland – man kann auch Mitteleuropa sagen – nie ab. Im Programm der Kulturhauptstadt Riga für dieses Jahr wird zu Recht Richard Wagner gefeiert, der von 1837 bis 1839 als Musikdirektor am Stadttheater in Riga wirkte und hier die Komposition seiner Oper „Rienzi“ begann. Wenn auch das Ende dieses Engagements wenig rühmlich ausfiel – Wagner verließ die Stadt wegen seiner Schulden fluchtartig –, beweist dieses Beispiel doch, daß Riga voll in das damalige deutsche Musikleben integriert war. Die Sängerfeste der Letten, die noch heute im Mittelpunkt der musikalischen Interessen dieses Volkes stehen, orientierten sich im 19. Jahrhundert ebenfalls an deutschen Vorbildern. In der Lettischen Nationaloper steht Wagners „Rienzi“ im Rahmen des diesjährigen Opernfestivals am 3. und 15. Juni auf dem Programm.

Das gewiß stets problematische Verhältnis zwischen deutschen Herren („Baronen“) und lettischen Bauern weist auch lichtere Seiten auf. Es waren vor allem die deutschen Pfarrer, die – getreu der Weisung Martin Luthers – ihrer lettischen Gemeinde das Evangelium in deren eigener Sprache predigten und bei dieser Gelegenheit der Jugend auch ein Minimum an Bildung (Lesen, Katechismus) beibrachten. Später setzten sie sich für den Ausbau des lettischen Volksschulwesens ein und trugen entscheidend zur Entwicklung des bäurischen Lettisch zu einer modernen Hochsprache unter anderem durch Übersetzung der Bibel in die lettische Sprache bei.

Die Stender-Straßen in Riga und anderen Orten erinnern an den bekanntesten Vertreter dieses Berufsstandes, Gotthard Friedrich Stender (1714–1796), der – obwohl Deutscher – seiner Liebe zum lettischen Volk, für das er sich literarisch vielfältig eingesetzt hatte, dadurch Ausdruck verlieh, daß er auf seinem Grabstein in lettischer Sprache vermerken ließ: Hier ruht G. F. Stender, der Lette.

Verständigung auf englisch

Man kann die Geschichte Rigas und damit Lettlands, wenn man will, auch als Teil der europäischen Geschichte darstellen. Glaubwürdig ist das aber nur dann, wenn man die jeweiligen ethnischen Verhältnisse nicht unterschlägt und auch nicht die Augen davor verschließt, daß in der Zeit der sowjetischen Diktatur eine forcierte Einwanderung von Russen (und Weißrussen und Ukrainern) nach Riga stattfand, die noch heute dafür sorgt, daß Letten in ihrer Hauptstadt in der Minderheit sind, wie sie 200 Jahre früher, in der „deutschen“ Zeit Rigas auch in der Minderheit waren. Wichtige Informationen zur sowjetischen Zeit erhält der Besucher Rigas heute im „Okkupations-Museum“ gleich neben dem Schwarzhäupterhaus.

Deutsche Besucher Rigas können sich heute dort am besten mit der englischen Sprache verständigen. Das war vor dreißig Jahren noch anders, als man zumindest in der älteren Generation der Letten und bei den akademisch Gebildeten noch ausreichende deutsche Sprachkenntnisse voraussetzen konnte. Die deutsche auswärtige Kulturpolitik unternimmt wenig oder nichts, um sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen. Sie scheint von dem „europäischen Bürger“ zu träumen, der sich überall auf englisch verständigt. Darunter werden nicht zuletzt auch die nationalbewußten Letten zu leiden haben, denen dadurch große Teile der historischen Quellen ihres eigenen Volkes verschlossen bleiben. Lettische (und auch estnische) Archive bergen nun einmal Archivalien, die vor allem in deutscher Sprache verfaßt sind!

Die Besucher der geschichtsträchtigen Kulturhauptstadt Riga sollten ihre Reise auch zum Anlaß nehmen, darüber nachzudenken, wie man heutzutage am besten mit den Fallstricken umgeht, die der eigenen und fremden Geschichte geschuldet sind. Europa bleibt ein Europa der Vaterländer oder Nationen – oder es wird nicht sein.

Weitere Informationen zur Kulturhauptstadt Riga und dem Veranstaltungsprogramm im Internet unter:

www.riga2014.info/

www.liveriga.com/de

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