© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Auswuchs eines Kulturkampfes
Der Historiker Daniel Koerfler analysiert Hintergründe, wie es zu der wissenschaftlich fragwürdigen Studie über die NS-Zeit des Auswärtigen Amtes kam
Thorsten Hinz

Groß war das Getöse, mit dem im Herbst 2010 das Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ unter die Leute gebracht wurde. Die Verfasser glaubten nach jahrelangen, vom Staat mit Millionenbeträgen finanzierten Studien herausgefunden zu haben, was selbst den ambitioniertesten Vergangenheitsbewältigern zuvor entgangen war: Das Auswärtige Amt sei ein Kompetenzzentrum für den Mord an den europäischen Juden gewesen und habe 1933 den Anstoß zu ihrer Ausgrenzung gegeben. Erst unter dem grünen Außenminister Joschka Fischer – dem Auftraggeber des Bandes – habe das Amt begonnen, sich seiner Vergangenheit zu stellen, und aufgehört, NS-belasteten Mitarbeitern mit einem ehrenden Nachruf zu gedenken.

Bereits beim flüchtigen Durchblättern fielen gravierende inhaltliche und formale Mängel ins Auge. Trotzdem hatten die Autoren und ihr Auftraggeber lange Oberwasser. Bei der Buchpräsentation gab Fischer sich erschüttert über den Abgrund aus Verworfenheit und Reuelosigkeit, den die Historiker ihm offenbart hatten, und zerknirscht darüber, daß die Zusammenhänge ihm nicht früher aufgegangen seien. Das war, wie der Historiker Daniel Koerfer darlegt, reines Schmierentheater: Genau dieses Ergebnis hatte Fischer beabsichtigt und insinuiert, als er die Historikerkommission ins Leben rief.

Eine unheilvolle Rolle in der Affäre spielte das Feuilleton der FAZ, dem jedes Mittel recht war, um verlorengegangene Resonanz zurückzuerobern. „Die Täter vom Amt“ betitelte Herausgeber Frank Schirrmacher einen ganzseitigen Artikel, in dem er bar jeder Kenntnis schlußfolgerte: „Das Auswärtige Amt war systematisch an der Judenvernichtung beteiligt. Die Karrieren der Diplomaten gingen nach 1945 bruchlos weiter.“ Außenminister Guido Westerwelle (FDP) übernahm diese Sprachregelung wortgetreu und verordnete künftigen Diplomaten die Studie als Pflichtlektüre. Außerdem verfügte er, in den deutschen Auslandsvertretungen die Bilder der Botschafter, die bis 1945 ihr Amt versehen hatten, zu entfernen.

Inzwischen ist die Studie selbst den meisten ihrer Propagandisten von einst peinlich. Der Berliner Historiker Daniel Koerfer war einer der ersten, der ihre Seriosität bezweifelte. Sein gut 500 Seiten starkes Buch faßt seine Kritik zusammen und zeichnet die Affäre in ihren Einzelheiten, Entwicklungsphasen, Verästelungen und Motivstrukturen nach, wobei ihm sein Insider- und Hintergrundwissen zugute kommt.

Der Skandal begann damit, daß Joschka Fischer, seit 1998 Außenminister einer rot-grünen Koalition, „grüne Akzente“ setzen wollte und einen Erlaß herausgab, der die Botschaften und Konsulate in Osteuropa zur faktisch uneingeschränkten Visa-Erteilung verpflichtete. Die Folge waren unhaltbare Zustände in den Auslandseinrichtungen und ein massiver Visa-Mißbrauch. 2004 wurde in einem Gerichtsurteil gegen einen Menschenschmuggler darauf hingewiesen, daß der Erlaß erst die Grundlage für dessen kriminelles Treiben geschaffen hatte. Fischers Rücktritt schien unausweichlich. Außerdem hatte seine im Auswärtigen Amt plazierte Entourage – ehemalige Trotzkisten und K-Gruppen-Angehörige wie der frühere Pol-Pot-Verehrer Joscha Schmierer – unter den Beamten für Unmut gesorgt.

Historiker als Werkzeuge Joschka Fischers

In dieser angespannten Lage erreichte Fischer 2003 die Information der hochbetagten ehemaligen AA-Mitarbeiterin Marga Henseler, die sich über einen Nachruf auf den ehemaligen Generalkonsul Franz Nüßlein beschwerte, der in der hausinternen Zeitschrift erschienen war. Nüßlein habe sich während der deutschen Besatzungszeit in Prag als „gnadenloser Jurist“ hervorgetan. Fischer ordnete daraufhin an, keinem früheren Mitglied der NSDAP, SS oder SA einen Nachruf mehr zu widmen.

Dieser Erlaß – der selbst seinen Amtsvorgänger Hans-Dietrich Genscher betroffen hätte – stieß auf den geballten Protest ehemaliger Mitarbeiter (die sogenannten „Mumien“) des Ministeriums. Fischers Autorität war damit generell in Frage gestellt. Statt seine Entscheidungen zu korrigieren, schaltete er auf „Kampfmodus“ um und rief zum Kulturkampf „1968 gegen 1938“ auf. So rettete er sich über die Zeit, bis die rot-grüne Koalition 2005 endete. Als vergiftetes Geschenk beauftragte er eine Historikerkommission, die NS-Zeit im Auswärtigen Amt auszuleuchten. Das Ergebnis war die Skandal-Studie.

Koerfers Buch bedeutet ihren definitiven Verriß, dessen Einzelheiten man sich hier ersparen, zur weiteren Lektüre jedoch unbedingt empfehlen kann. Nur soviel: Der Diplomat Franz Nüßlein, der von 1945 bis 1955 in tschechischer Haft gehalten wurde, war keineswegs ein Blutjurist, als der er hingestellt wurde. Die Informantin Marga Henseler, die von der FAZ zur „rückwärtsgewandten Prophetin“ verklärt wurde, war seine frühere Geliebte gewesen. Nebenbei erledigt Koerfer das Vorurteil, die Funktionseliten und Täter des Dritten Reiches seien juristisch kaum belangt worden. In Wahrheit starben Tausende, Schuldige und Unschuldige, mit oder ohne Urteil. Entweder am Galgen, durch Hunger und Krankheit, in Lagern, in Gefängnissen, in sibirischen Gulags. Selten hat eine Niederlage unter den besiegten Funktionseliten eine so blutige Ernte gehalten.

Der Skandal liegt nicht beim Amt, sondern bei Fischer sowie den Wissenschaftlern und Journalisten, die sich zu seinen Werkzeugen machen ließen. Der Autor ordnet dabei Fischer, der es vom Taxifahrer zum Minister schaffte, demselben sozialen Typus zu wie den verkrachten Kunstmaler, der zum letzten Kanzler des Reiches aufstieg: Beide waren intelligent, ohne Beruf, ehrgeizig und vom Ressentiment des Deklassierten getrieben. Koerfer zitiert aus einem Aufsatz Fischers aus seiner Frankfurter Revoluzzer-Zeit: Er habe ein „existentiell sadistisches Vergnügen“ am Prügeln und trage Züge von Stalin und den Lustmördern Jürgen Bartsch und Fritz Honka in sich.

1976 wurde aus einer linken Demonstration in Frankfurt ein 23jähriger Polizist von einem Molotowcocktail getroffen, sechzig Prozent der Haut verbrannten. Danach wurde Fischer mit 13 anderen verhaftet und galt als besonders schwer belastet. Am nächsten Tag wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Koerfer: „Was in den etwas mehr als 24 Stunden seiner Inhaftierung mit Joschka Fischer geschah, ob er unter Druck gesetzt oder korrekt behandelt worden ist, wir wissen es nicht.“

Trotz Widerlegung hat die Studie eine fatale Prägekraft

Wie dem auch sei: Fischer hatte als Außenminister keine Skrupel, aus persönlichen Gründen eine der wichtigsten deutschen Institutionen vor dem In- und Ausland in Verruf zu bringen. Abgesehen vom fehlenden Komment, der sich hier zeigt, hätte ein Mann, der sich jahrelang in einem Milieu getummelt hatte, wo die Grenzen zur politisch motivierten Kriminalität fließend waren, aus Gründen der Sicherheit und Staatsräson niemals Außenminister werden dürfen. Die Aktivitäten dieser Szene berührten auch ausländische Interessen. In einem Interview, das Bettina Röhl mit Ignatz Bubis zu den Vorgängen in Frankfurt geführt hatte (und das Koerfer leider entgangen ist), wies der 1999 verstorbene Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland darauf hin, daß fremde Geheimdienste „immer gewußt (hätten), wer wo ist“. Fischer bleibt eine bundesdeutsche Blackbox. Koerfer hätte ruhig noch tiefer in sie eindringen und auch versuchen sollen, die Faszination zu erklären, die Fischer auf den Politik- und Medienbetrieb ausübte. Das wäre dann eine politische Sitten- und Hintergrundgeschichte der BRD geworden.

Die vollständige Bedeutung der „Amts“-Affäre erschließt sich erst innerhalb einer Gesamtwürdigung von Fischers Ministertätigkeit. Er hat den deutschen Nachkriegspazifismus, der bei den Grünen parteipolitisch verankert war, kaltgestellt und die Voraussetzung geschaffen, um Deutschland vollends in die Globalstrategie der USA einzufügen. In diesem Rahmen ist auch die „fatale Prägekraft“ zu sehen, die „Das Amt“ trotz seiner Widerlegung entfaltet. Sie besteht in der damnatio memoriae, der Verdammung des Andenkens nicht nur der „Mumien“, sondern auch des Ministeriums. Koerfer: „Das Amt bis zum Beginn von Rot-Grün 1998 ist – vernichtet.“ Die Feststellung wäre zu präzisieren: „Vernichtet“ ist eine 200jährige Institution, die in besonderer Weise die Kontinuität deutscher Staatlichkeit verkörpert. Staatlichkeit und Identität sollen höchstens noch auf der Grundlage des „Befreiungskonsenses“ (Fischer), also gemäß den Bestimmungen der Vor- und Siegermächte, denkbar sein. Koerfer hat ein kluges, spannendes und faktenreiches Buch verfaßt. Es sollte fortgeschrieben und vertieft werden.

Daniel Koerfer: Diplomatenjagd. Joschka Fischer, seine Unabhängige Kommission und „Das Amt“. Jürgen Strauss Verlag, Potsdam 2013, gebunden, 544 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Die Mitglieder der Historikerkommission Peter Hayes, Eckart Conze, Moshe Zimmermann und Norbert Frei (v.l.n.r.) stellen mit Außenminister Guido Westerwelle am 28. Oktober 2010 ihre Arbeit im Auswärtigen Amt vor: Künftigen Diplomaten die Studie als Pflichtlektüre verordnet

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