© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Am Ende will man ankommen
Literatur: Martin Mosebachs „Blutbuchenfest“ ist weniger ein Roman als vielmehr eine Bildersammlung
Günter Zehm

Der Buchumschlag des Münchner Künstlers Nikolaus Heidelbach ist schön bunt, bleibt aber zunächst rätselhaft. Ein kohlschwarzer Rabe balanciert auf seinem Schnabel einen kochroten Hummerpanzer. Erst das dreizehnte der 31 Kurzkapitel (Seite 163 ff.) bringt einigen Aufschluß. Auf dem Balkon einer vornehmen Gründerzeitvilla in Frankfurt am Main liegen wüst verstreut einige Hummerschalen herum, offenbar Reste eines eleganten Nachtmahls, um die sich nun eine Meute höchst unsympathischer Krähen streitet.

„Der Kopf einer solchen Krähe schien nur für den gefährlichen Hackschnabel dazusein, klein und dumm mit schwarzen Rattenaugen, der Schnabel dafür aber ein großes, geschliffenes Mordinstrument, in der Hornscheide eines Dolches. Ivana vergaß nie, wie sie zu Hause in Bosnien Zeuge geworden war, als sechs hühnergroße Krähen ein junges, beinah nur aus entsetzten Augen bestehendes Kätzchen totgehackt hatten. Das steckte in diesen Vögeln …“

Ivana ist die Putzfrau, die gekommen ist, den Balkon und die ganze dazugehörige Wohnung aufzuräumen. Wir sind in dem neuen Roman von Martin Mosebach, „Das Blutbuchenfest“, wo besagte Ivana als guter Geist faktisch allgegenwärtig und fleißig zugange ist. Sie kennt ihre Kunden aus dem gehobenen Frankfurter Mittelstand gleichsam „von unten“, aus ihrem Müll und aus dem Durcheinander, das sie in ihrem Alltag und auf ihren Partys anrichten. Gleichzeitig steht sie per Handy – der Roman spielt 1990/91 – in Dauerkontakt mit ihren Verwandten in Bosnien, bei denen gerade Bürgerkrieg ist und der volle Ernst des Lebens waltet.

Verglichen mit den Vorgängen in Bosnien nehmen sich die Ereignisse in Frankfurt, die Ivana zu Gesicht bekommt, geradezu gespenstisch aus, zumal deren Verursacher, Ivanas Klientel, durch die Bank trostlose Schickimicki-Typen sind, „Adabeis“, welche gar nicht in die Lage kommen, je etwas Solides auf die Beine zu stellen: wuselige Werbefuzzis, „Investoren“, deren Kapital aus nichts als Schulden besteht, Möchtegern-Politiker aus der allenfalls vierten Reihe, Kreativbolzen, denen nur die abgelegtesten Phrasen einfallen.

Die ganze Bagage trifft sich mit einiger Regelmäßigkeit am „Prominententisch“ eines feinen Restaurants, dessen Besitzer mit von der Partie ist. Wir sind in der Zeit kurz nach der Wende 1990/1991. Man heckt den Plan eines großen, ja riesigen „wohltätigen“ Freilichtfestes für die Reichen und Schönen aus Frankfurt und Umgebung aus (Eintritt 150 D-Mark), um wieder zu einigem Geld zu kommen. Das ganze Buch kreist um die Vorbereitung und „Durchführung“ jenes Festes, des „Blutbuchenfestes“, benannt nach einem gewaltigen, sein Laubwerk schier endlos ausbreitenden Baumes auf einer großen innerstädtischen Wiese.

Sind die Durchführer des Festes nun allesamt nichts weiter als scheußliche, dumme Krähen? Ist es dies, was Mosebach in seinem Kapitel Nummer 13 und Nikolaus Heidelbach mit seinem Titelbild andeuten wollen? Sollte das der Fall sein, so wäre zu sagen, daß damit völlig falsche Fährten gelegt wurden. Denn Rabenvögel sind nichts weniger als dumm (und auch nicht sonderlich blutrünstig), es sind im Gegenteil die wahrscheinlich klügsten Tiere, die es neben Schimpansen und Delphinen gibt, und sie führen ein erstaunlich differenziertes Sozialleben, dessen Weite und Raffiniertheit gerade erforscht werden.

Mosebachs Schickimickitruppe wird durch das Krähengleichnis weit über Gebühr aufgewertet, der Roman bekommt dadurch etwas Komisches und Unwirkliches, und die durchlaufende Konfrontation mit den kriegerischen Ereignissen in Bosnien vertieft die Unwirklichkeit noch. Schließlich befinden wir uns in den Jahren 1990/91, es läuft nicht nur der Zusammenbruch Jugoslawiens, sondern auch die deutsche Wiedervereinigung mit all ihren Begeisterungen und Verstörungen. Aber nichts, rein gar nichts davon, auch nicht das kleinste Wörtchen, findet sich an Mosebachs Stammtisch bei den Frankfurter Krähen. Läßt sich so ein zeitgeschichtlicher Roman gestalten?

Die Wahrheit ist: „Das Blutbuchenfest“ ist gar kein Roman, selbst wenn man die weitestgespannten, liberalsten Maßstäbe anlegt. Es ist – wie ja auch schon die Fülle der durchweg kurzen bis sehr kurzen Kapitel vermuten läßt – ein Reigen impressionistischer Personen- und Zimmerporträts, die durch das angesagte gemeinsame Fest nur lose miteinander verbunden werden. Selbst das letzte Kapitel, welches angeblich das nun endlich stattfindende Fest zum Inhalt hat, erschöpft sich in der intensiven Beschreibung von Einzelteilen.

Es gibt keine emphatische Generalperspektive, nicht einmal einen dröhnenden Schlußakkord. Die vielen Festbesucher verkrümeln sich nach und nach, man erfährt nichts darüber, wie es eventuell mit ihnen weitergehen wird. Statt dessen sieht man ein Trümmerfeld von Party-Müll, umgekippte Sektgläser, ausgelutschte Hummerschalen, überdurchschnittlich strapazierte Toiletten, und die unvermeidliche Reinigungskraft Ivana aus der bosnischen Kampfzone erscheint. Die beiden letzten Sätze des ambitiösen Werkes lauten: „Sie zog ihr Kostüm aus und streifte den Jogginganzug über. Dann begann sie aufzuräumen.“

Gut für den Leser, daß im „Blutbuchenfest“ insgesamt doch nicht nur bloß aufgeräumt, sondern auch erst einmal ausführlich gepinselt und dabei auf feinste Nuancen abgestellt wird. Hier liegt die eigentliche Qualität Mose-

bachs. Seine notorische Beschreibungswut, sein metaphorischer Einfallsreichtum und sein untrüglicher Sinn für sprachliche Transzendenz und Relativierungskraft – das alles befindet sich hier auf einem neuen Höhepunkt. Wo andere Autoren schwerstes Geschütz auffahren, wildesten Sarkasmus oder gar frontale Beschimpfung, reichen bei Mosebach stets winzige ironische Anspielungen. Das ist streckenweise bezaubernd.

Ein Kapitel für sich sind die wundersamen Metaphern und Vergleiche in ganz schlichten Zusammenhängen. Über ein Mädchen etwa, das dem Ich-Erzähler unverhofft am Prominentenstammtisch begegnet, heißt es: „Sie trug ein Kleid, das ihr wie von einem drogensüchtigen Mexikaner auf den Leib gemalt war.“ Oder über ein Telefonat Ivanas mit ihren Angehörigen: „Nach Bosnien berichtete sie über ihre Chefin wie von einem fleisch-und-blut-gewordenen Niederwalddenkmal. Diese Tüchtigkeit! Das war Putzen! Von diesem Putzen konnte die Welt lernen“.

Doch es gibt auch Beschreibungen, die ans Herz rühren, so über den Besuch in einem original altchinesischen Restaurant, wo eine Suppe mit noch lebendigen Schildkröten serviert wird: „Der Kellner hob sie aus dem blauen Eimer heraus. Der Dampf schlug ihr entgegen (…) Im Sturz und bei Berührung mit der kochenden Brühe fuhr der Hals in nacktem Entsetzen ganz nach vorn. Der Kopf bog sich in dem vergeblichen Bemühen, aus der brennenden Brühe herauszukommen. So klein das Tier war, es offenbarte jetzt eine Drachenhaftigkeit aus Schmerz und Empörung, eine Drohung und Verfluchung all jener Gefühllosen, die ihm so etwas antaten …“

Solche Stellen wird man wohl mehrmals hintereinander lesen, um das in ihnen waltende Verhängnis voll zu ermessen. Doch es sind eben „Stellen“, eingebettet in einen voluminösen Kontext, der selbstredend nicht aus lauter Pointen bestehen kann, der oft absatzlos über mehrere Seiten dahinrinnt und an dessen charmant-bedachtsamen Beschreibungsrhythmus man sich manchmal fast bis zum Einschlafen gewöhnt. Nicht verwunderlich, daß sich empfindliche Kritiker, so zum Beispiel Roman Bucheli von der Neuen Zürcher Zeitung, vom „Blutbuchenfest“ schlicht gelangweilt fühlen und nach rapiden Kürzungen rufen.

Romanleser sind in der Regel geduldige Leute, bereit und begierig, sich auf das Schicksal anderer einzulassen, auf deren „Lebensweg“. Im Wesen des Epischen liegt durchaus das Peripathetische, die Wanderschaft, und dazu gehört eine gewisse Gleichförmigkeit, die Streckung des literarischen Aufwands. Aber man will natürlich ankommen. Je karger der Weg, um so größer die Hoffnung auf das Ziel.

Romanautoren werden unter diesem Gebot partiell zu Verwaltern des Mangels, zu klugen Reiseführern durch die Wüste und durchs wilde Kurdistan. Sie produzieren die Geröllstrecken nicht nur, sondern sie machen sie auch begehbar, helfen über die Eintönigkeit mit klugen Scherzen oder Detailbeobachtungen hinweg. Und günstigenfalls (siehe Thomas Mann in seinen besten Passagen, die Frühstücksszenen im „Zauberberg“, die sich ewig gleichbleibenden Spaziergänge von Herr und Hund) tauchen sie die Banalitäten ins Säurebad einer Ironie, die an ihnen ganz unerwartete Konturen freilegt und sie für den Leser höchst erträglich macht.

Voraussetzung ist freilich, daß es sich bei dem betreffenden Werk wirklich um einen Roman handelt und nicht um eine impressionistische Bildersammlung. Und wichtig ist, daß sich am Ziel der epischen Wanderung eine echte Oase auftut, die Leben und Erinnerung spendet, nicht nur ein Gartenfest, wo die Gäste – um es deftig zu sagen – nach dem Sektempfang heimlich unter der Buche pinkeln und sich anschließend grußlos davonmachen.

Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest. Roman, Hanser, München 2014, gebunden, 448 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Blutbuche: Das von einem windigen Geschäftemacher organisierte Gartenfest sorgt bei Martin Mosebach für allerlei Verwicklungen

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