© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/14 / 21. März 2014

Der Weckruf
Krim-Krise: Putins Coup rückt bei uns endlich wieder die Außenpolitik in den Fokus
Christian Vollradt

Die Würfel sind gefallen. Rußlands Präsident Wladimir Putin hat die Krim als souveränen Staat anerkannt, in die russische Föderation aufgenommen und damit das Ergebnis des Referendums vom vergangenen Sonntag bestätigt.

Die Europäische Union hält die Abstimmung unter Hinweis auf ihr Zustandekommen und die Begleiterscheinungen – vor allem die verstärkte Präsenz russischer Truppen oder die Abschaltung des ukrainischen Rundfunks auf der Krim – für illegal. Gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und Japan haben die EU-Außenminister erste Sanktionen gegen Rußland verhängt, das Land aus der Versammlung der G8-Staaten ausgeschlossen; betroffen von Einreiseverboten und Kontosperrungen sind zunächst 21 Personen, allesamt nicht aus der ersten politischen Reihe. So weit, so vorhersehbar.

Beide Seiten haben bisher im wesentlichen das getan, was sie im Verlauf der Krise zuvor angekündigt hatten. An einer Ausweitung der Sanktionen und möglichen Gegensanktionen können weder Rußland noch der Westen ein Interesse haben; dafür sind die wirtschaftlichen Verflechtungen zu stark, die Abhängigkeiten voneinander zu groß. Man werde die diplomatischen Kanäle offenhalten, wird versichert.

Dennoch ertönt eine Menge Theaterdonner und Propaganda – auf beiden Seiten. Manch westlicher Politiker hätte sich zu Beginn der Auseinandersetzungen in der Ukraine besser auf die staatsmännische Tugend der Zurückhaltung besonnen, anstatt zivilgesellschaftliche Heilserwartungen zu schüren. Unangebracht ist es auch, den Kreml-Machthaber zu dämonisieren. Putin ist kein wildgewordener Neo-Bolschewik, sondern ein – bisweilen nationalistisch, vor allem jedoch pragmatisch agierender – Machtpolitiker, der seinen großrussischen Claim absteckt. Genauso ins Reich politischer Fabeln gehört natürlich Putins, in seiner Rede am Dienstag vorgetragene Sorge um das Selbstbestimmungsrecht der Krim-Bewohner oder die historische Verbundenheit der Halbinsel mit der russischen Muttererde als Begründung seines Handelns. Nach solchen Maßstäben müßte er den Tschetschenen umgehend einen eigenen Staat einräumen – und Königsberg an die Deutschen zurückgeben.

Die Schuldfrage, ob „der Westen“ – also in erster Linie Nato und EU – Rußland nun absichtlich „eingekreist“ hat, ist so müßig wie die Frage „Wer hat angefangen?“ in einer Schulhofrauferei. „Die Situation ist da“, könnte man ein Bonmot Konrad Adenauers anführen. Moskau fühlt sich eingekreist, bedrängt – „betrogen, hintergangen und vor vollendete Tatsachen gestellt“ (Putin). Diese Einschätzung muß man nicht teilen, eine kluge Politik hätte sie allerdings vorausgesehen und bereits im Vorfeld entsprechende Schlüsse gezogen.

Alle, die nach dem Ende der Blockkonfrontation des Kalten Krieges die Nato in erster Linie als eine Sozialisierungsagentur für „Demokratie“ und „westliche Werte“ verstanden wissen wollten, werden nun eines Besseren belehrt. „Allianzen sind gegen und nur abgeleitet für etwas“, stellte der Doyen der Allianzforschung, Georg Liska, einst fest. In Moskau sieht man dies offenbar genauso.

Nun üben also Einheiten der russischen Armee an der Grenze zur Ukraine, nun patrouillieren Awacs-Flugzeuge der Nato – mit deutschen Besatzungen – an der gesamten Ostgrenze des Bündnisses, sind amerikanische F-16 nach Polen verlegt worden und tummelt sich ein US-Zerstörer im Schwarzen Meer. Im Blitzfeldzug der Russen gegen Georgien 2008 hatte die Türkei amerikanischen Kriegsschiffen gemäß dem Abkommen von Montreux die Durchfahrt durch die Dardanellen noch verwehrt und somit Moskau ein Signal der Entspannung gegeben. Jetzt aber reiste der türkische Außenminister Ahmat Davutoglu umgehend nach Kiew und machte dort unmißverständlich klar, daß sein Land die Vorgänge auf der Krim nicht ignorieren könne, weil dessen Sicherheit davon betroffen sei.

Unwillentlich könnte Wladimir Putin also schaffen, worum sich westliche Politiker lange vergeblich bemüht hatten: der Nato wieder einen Sinn zu geben, die Allianz zu einen, die vor gut zehn Jahren – im Streit um den Irak-Krieg – ihre „Nahtoderfahrung“ (Carlo Masala) machen mußte.

Dem gemeinsamen Interesse der Nato wie Rußlands, die Proliferation von Nuklearwaffen zu verhindern, hat Putin einen Bärendienst erwiesen. Manches Regime in der Welt wird sich genau notieren, was auf der Krim geschehen konnte – und entsprechende Konsequenzen ziehen. Das Budapester Memorandum, in dem 1994 Rußland sowie die Vereinigten Staaten und Großbritannien die Integrität der Ukraine garantierten, die im Gegenzug ihre Atomwaffen vernichtete beziehungsweise an Moskau abtrat, ist, wie man jetzt gesehen hat, das Papier nicht wert, auf dem es steht. Wieder einmal zeigt sich: Souverän ist nur, wer über ein atomares Abschreckungspotential verfügt.

Deutschland sollte die aktuelle Krise als einen sicherheitspolitischen Weckruf verstehen. Daß jetzt quer zu den (ohnehin verschwommenen) Lagern wenigstens ansatzweise wieder eine Debatte über die Außenpolitik Berlins stattfindet, ist ja schon mal ein Lichtblick. Daraus muß folgen, daß die Formulierung – und Finanzierung – nationaler Interessen nicht mehr als anrüchig gilt. Anstatt politisch marginalisiert und ohne Mitentscheidungsmöglichkeiten bloß die (militärische wie finanzielle) Nachsorge für die Feldzüge der amerikanischen Führungsmacht zu übernehmen, wäre Deutschland berufen, als Wirtschafts- und Mittelmacht Konflikte an der europäischen Peripherie zu entschärfen. Mitchell Orenstein, Rußland-Spezialist in Harvard, sieht in dieser Aufgabe eine Schlüsselstellung für Berlin: dem französisch-deutschen Europa folge nun das russisch-deutsche.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen