© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/14 / 21. März 2014

Auf dem Hügel der Künstler
Vergnügungsviertel: Die Schirn in Frankfurt am Main zeigt die sehenswerte Ausstellung „Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900“
Claus-M. Wolfschlag

Der Pariser Montmartre verströmt auch heute noch einen Hauch von ländlichem Flair. Mit Kopfsteinpflaster bedeckte enge Straßen führen entlang von teils niedriggeschossigen Wohngebäuden bis hinauf zur strahlend weißen Basilika Sacré-Cœur, deren Grundstein 1875 gelegt worden war; die Weihe fand erst 1919 statt. Das Dorf an der höchsten natürlichen Erhebung der Stadt wurde 1860 eingemeindet, und zur Jahrhundertwende bot es einen stellenweise erbärmlichen Anblick, der an heutige Favelas und Hüttendörfer aus der dritten Welt erinnert.

In diese Welt will jetzt die aktuelle, von Ingrid Pfeiffer kuratierte Ausstellung „Esprit Montmartre“ in der Frankfurter Schirn Kunsthalle mit über 200 Kunstwerken von Henri de Toulouse-Lautrec, Van Gogh, Picasso, Edgar Degas und anderen entführen. Gezeigt werden zudem historische Fotografien, Plakate und Grafiken, die beeindruckend die exotische Stimmung dieser noch gar so lange vergangenen Vergangenheit vermitteln.

Die sich in ein Armutsviertel wandelnde Gestalt des zuvor von Windmühlen und Weingärten geprägten Areals war das Ergebnis zweier Phänomene, die uns auch heute wieder begegnen: Zuwanderung und Gentrifizierung. Zum einen begannen die Metropolen generell in Folge der Industrialisierung über ihre mittelalterlichen und neuzeitlichen Festungsringe zu wachsen, zum anderen baute Baron Haussmann als Präfekt ab Mitte des 19. Jahrhunderts das moderne Paris der monumentalen Boulevards und eleganten Passagen. Den sich dadurch verteuernden Wohnraum konnten sich viele Arbeiter, aber auch Bürger, nicht mehr leisten, so daß sie in die Randgebiete auswichen.

Der Montmartre wurde dabei auch ein Prototyp des klassischen Vergnügungsviertels. Kriminelle, Diebe, Artisten, ärmliche Bohémiens, Prostituierte und Trinker siedelten sich an. Gaststätten mit günstigem Wein, Kaffeehäuser, Tanzlokale und Kabaretts entstanden. So überrascht es kaum, daß dieses Konglomerat der Unterschichten schon damals auf Teile der jungen Künstler eine Anziehungskraft ausübte.

Um das Jahr 1890 versammelten sich jeden Montag am Place Pigalle über 600 Mädchen zwischen 16 und 21 Jahren, die sich als Modelle anboten. Viele arbeiteten neben ihren Tätigkeiten in der Gastronomie und Modeindustrie auch als Prostituierte, um ihren Lebensunterhalt aufzubessern. „Das Viertel ähnelt einem riesigen Atelier“, schrieb ein Kritiker jener Jahre. Und wahrlich tummelten sich damals im 18. Arrondissement viele Namen, die längst zur künstlerischen Avantgarde jener Jahre gezählt werden. Bis heute zehrt das Viertel von diesem einstigen Ruf.

Die Frankfurter Schau zeigt viele der damals entstandenen Werke. Man begegnet kleinen Einblicken in die Welt der Bordelle bei Edgar Degas und eindeutigen Beischlafszenen von van Gogh und Picasso, der auch mit vielen Bildern von Zirkusartisten in Frankfurt vertreten ist. Eine Absinthtrinkerin wird bei Kees van Dongen von heftigen psychedelischen Visionen ereilt. Giovanni Boldini präsentiert eine opulente Partyszenerie, während bei Toulouse-Lautrec ein Schwarzer einsam in einer Bar vortanzt.

Doch auch die landschaftlichen Momentaufnahmen kommen nicht zu kurz. Während Santiago Rusinol, Maurice Utrillo und Ramon Casas das Viertel in ein südländisches Licht tauchen, hat sich bei Henri Evenepoel Londoner Nebel über die Pariser Straßen gelegt.

Diese Arbeiten stehen exemplarisch für die Vielgestaltigkeit der sehenswerten Frankfurter Ausstellung, die so ein sehr lebendiges Bild von einem der energetisch bedeutenden Orte und Zeiträume der Kunstgeschichte vermittelt.

Die Ausstellung „Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900“ ist bis zum 1. Juni in der Frankfurter Kunsthalle Schirn, Römerberg, täglich außer montags von 10 bis 19, Mi. und Do. bis 22 Uhr, zu sehen. Telefon: 069 /29 98 82-0.

www.schirn.de

Foto: Vincent van Gogh Die Mühle „Le Blute-Fin“, Öl auf Leinwand, 1886; Historische Montmartre-Aufnahmen von 1900, Eingang des Moulin de la Galette und Frauen am Brunnen, Place du Tertre: Exotische Stimmung

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