© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/14 / 21. März 2014

Die Stunde der Aufarbeitung
Eine Studie von Christiane Baumann über „Freie Erde“ zeigt, wie gleichgeschaltet DDR-Medien waren
Ronald Gläser

Der ehemalige Wehrmachtsoffizier Manfred Wilkens trat nach dem Krieg der SPD bei und wurde 1946 zwangsvereinigtes SED-Mitglied. Er arbeitete als Redakteur der Parteizeitung Freie Erde im DDR-Regierungsbezirk Neubrandenburg. Aber Wilkens hatte Zwelfel. Warum wurden die Verbrechen Stalins weiter vertuscht, über die die Westmedien berichteten? Wilkens wurde das Gefühl nicht los, daß „alle im Osten belogen wurden“.

Sein Fehler. Denn er sprach darüber auch mit einer jungen Kollegin, seiner Geliebten. Beide waren MfS-Spitzel, und die Frau packte irgendwann bei ihren Agentenführern über ihn aus. Wilkens verlor seinen Job, wanderte fast ein Jahr in den Knast und wurde erst 1992 rehabilitiert, als er schon tot war.

„Die meisten Verhaltensmuster in der DDR sind schnell beschrieben, was mit ihrer unangenehmen Seite zu tun hat“, sagt Christiane Baumann trocken. Stasi-Akten sind für die Berliner Publizistin „Notate der Niedertracht“. Baumann hat ein Buch über die Freie Erde geschrieben, ein in dieser Art bislang einmaliges Werk. Es erzählt nicht nur die Geschichte der Zeitung, sondern auch, wie die Wahrheit und die Pressefreiheit im Sozialismus unterdrückt werden.

Die Freie Erde gehört zu den kleinsten SED-Parteizeitungen, nur die in Suhl und Halle hatten weniger Leser. Im Jahr 1952 betrug die Startauflage 60.000 Exemplare. Sie stieg bis auf 200.000. Die Zeitung erreichte fast alle Haushalte. Millionen Tonnen Papier und Millionen Mark an Subventionen seien geflossen, so Baumann, für wenig Informationen, für eine „großangelegte Inszenierung von Öffentlichkeit“. Eine Zeitung als SED-Propagandamaschine.

West-Politiker wurden gezielt verunglimpft

Immer wieder stolpern Journalisten über ihre MfS-Vergangenheit. Erst in dieser Woche erfuhr die Öffentlichkeit von den Spitzeldiensten Jens-Jörg Riecks. Der 1963 geborene ARD-Sportreporter hatte als IM „Jörg Woydt“ Kollegen und Sportler ausgespäht. Das Publikum kennt ihn zum Beispiel von der Bundesligakonferenzschaltung.

Aber selten wurden institutioneller Anpassungsdruck und Mitläufertum einer ganzen Zeitung, eines ganzen Verlages so gründlich aufgearbeitet. Und wenn, dann meistens erst durch auswärtigen Druck.

Der spektakulärste Fall war bislang die Berliner Zeitung. Bis zum Jahr 2008 kam der Berliner Verlag ohne lästige Vergangenheitsbewältigung aus. Als hintereinander gleich mehrere führende Redakteure enttarnt wurden, kündigte die Chefredaktion knallharte Maßnahmen an. „Die nun von der Chefredaktion eingeleitete Untersuchung mag unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen, sie mag offenbaren, was sich die Redaktion heute noch nicht vorstellen kann – aber sie wird in aller Konsequenz umgesetzt“, schrieb der damalige Chefredakteur Josef Depenbrock am 1. April 2008 „in eigener Sache“. Es folgte – nichts. Die vom Verlag beauftragten Wissenschaftler von der FU Berlin und der Viadrina in Frankfurt (Oder) lehnten das Projekt ab, und so verlief die Sache weitgehend im Sande.

Etwas anders lief die Sache beim Nordkurier aus Neubrandenburg. Die Zeitung, die 1990 aus der Freien Erde hervorgegangen war, hatte sich jahrelang um das Thema herumgedrückt, stand nicht unter unmittelbarem Rechtfertigungsdruck. Zum sechzigsten Jubiläum nahm der Verlag, der jetzt mehreren westlichen Regionalzeitungen gehört, die Aufarbeitung der eigenen SED-Vergangenheit in Angriff. Christiane Baumann wurde damit beauftragt, eine auf SED-Vergangenheit versierte Autorin. Die Berlinerin arbeitete „ein gutes Jahr“, wie sie sagt, an der Studie.

Baumann stieß auf Schicksale wie das des eingangs erwähnten Redakteurs oder jener Leserbriefschreiberin, die für ihre Regimekritik Ärger bekam. Selbst im Bildarchiv wurde sie fündig. Dort gab es Fotos aus der DDR-Zeit, die mit Hinweisen versehen waren, daß sie nur retuschiert verwendet werden dürften. Die Autorin fand auch heraus, wie orchestriert die Kampagnen gegen NS-belastete westdeutsche Politiker waren. 1961 lautete eine Überschrift „Die braune Pest regiert in Bonn“. Verantwortliche im Westen wurden wahlweise als Finanzhyänen oder Kriegstreiber gebrandmarkt. Als hingegen zwei SED-Kader in der Region zurücktreten mußten, nachdem ihre NS-Vergangenheit ans Licht gekommen war, schwieg die Freie Erde über diese Hintergründe.

Baumanns Erkenntnisse wurden in einer Artikelserie im Nordkurier veröffentlicht. Daraus wurde das Buch. Vor einer Woche wurde es auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt. Die erste Auflage ist inzwischen fast vergriffen. Die herausgebende Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern Anne Drescher kann kaum glauben, wie groß das Interesse an dem Thema ist. „Wir planen schon eine Neuauflage“, strahlt sie.

Personelle Konsequenzen hatte die Studie bislang nicht. Christiane Baumann selbst hatte auch nicht diese Absicht, betont sie. „Ich habe denen gesagt, daß ich keine Schnellreinigung bin.“ Nachdem sie die Studie abgeliefert hat, habe es aber „Gesprächsbedarf“ im Verlag gegeben, da ist sie sich sicher. Den wird es auch in anderen Redaktionen in den neuen Ländern noch geben.

Christiane Baumann: Die Zeitung „Freie Erde“ (1952–1990), Schwerin, 2013, Taschenbuch, 180 Seiten, 6 Euro. www.nordkurier.de

Foto: Werbebild der „Freien Erde“ aus DDR-Zeiten; Autorin Baumann: „Ich habe denen gesagt, daß ich nicht ihre Schnellreinigung bin“

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