© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/14 / 28. März 2014

„Erdogan ist die Nation“
Kommunalwahl Türkei: Lackmustest für die Stellung des Ministerpräsidenten / Opposition wittert Morgenluft
Günther Deschner

Erdoğan Superstar. Zehntausende jubelten dem türkischen Ministerpräsidenten in Istanbul zu, und der Chef der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) rückte sich ins Licht und unterstrich angesichts zunehmender kritischer Stimmen zu seinem Führungsstil sein Credo: „Ich höre gar nicht hin.“

Obwohl es bei den Kommunalwahlen nur um Bürgermeister und Stadtverordnete geht, zeigt sich der 60jährige kämpferisch. Er steht zwar auf keinem Stimmzettel. Jedoch werden an diesem Sonntag auch für seine Zukunft die Weichen gestellt. Ein TV-Wahlspot überhöht ihn zum Retter einer bedrohten türkischen Nation: „Erdoğan ist die Nation, so wie die Nation Erdoğan ist“ – so lautet die Botschaft.

Die Kandidaten der Opposition sind natürlich ganz anderer Ansicht. Unter ihnen ragt ein Politiker heraus, der Erdoğan über kurz oder lang gefährlich werden könnte: Mustafa Sarıgül, bislang Bürgermeister der Trabantenstadt Şişli. Der 58jährige Schriftsteller, Unternehmer und Lokalpolitiker will am Sonntag den langedienten Oberbürgermeister von Istanbul Kadir Topbaş beerben, ein Urgestein der AKP. Der 70jährige war vor zwanzig Jahren Berater Erdoğans, als dieser in den Jahren 1994 bis 1998 als Oberbürgermeister Istanbuls seine Politkarriere begann.

Twitter-Verbot erzürnt breite Bevölkerungsschichten

Herausforderer Sarıgül tritt für die kemalistisch und sozialdemokratisch abgetönte „Republikanische Volkspartei“ (CHP) an, die nach mehr als einem Jahrzehnt die AKP als Regierungspartei ablösen will. Istanbul ist ihr wichtigstes Etappenziel: Wer die Stadt regiert, hat etwas zu sagen im Land. Hier leben mindestens 15 Millionen Türken, vielleicht auch einige Millionen mehr, hier schlägt das kulturelle und ökonomische Herz des Landes.

Das politische Klima für politische Veränderungen in der türkischen Republik ist günstig: Das Land durchlebt einen schmerzhaften Prozeß der Ernüchterung. In nur wenig mehr als einem halben Jahr hat der umtriebige Erdoğan seinen Glanz verloren. Der Mann, der ein „zweiter Atatürk“ werden, der den Islam mit der westlichen Demokratie verbinden und die Türkei unter die zehn größten Wirtschaftsmächte der Welt führen wollte, steht seit Monaten unter Druck.

Enttäuscht reagierten viele AKP-Anhänger auf den Bruch mit seinem Ex-Verbündeten, der islamischen Gülen-Bewegung (JF 35/13). Auch daß frühere AKP-Weggefährten, allen voran der amtierende Staatspräsident Abdullah Gül, der keinen Hehl aus seiner ablehnenden Haltung zu Erdoğans Facebook-, Youtube- und Twitter-Verbotsideen macht, demonstrativ auf Abstand gehen, irritiert viele.

Jahrelang hatte Erdoğan Erfolg auf Erfolg errungen. Das wird nun schwieriger – nach den Massenprotesten des Sommers 2013 und vor allem seit den Enthüllungen um die Korruptionsaffären im engsten Umfeld seiner Regierung. Mit ungeheurer Aggressivität peitscht Erdoğan in diesen Tagen auf Riesenveranstaltungen die Parteianhänger gegen seine Kritiker im Land auf. „Linksradikale, Atheisten und Terroristen“ nennt er sie. Soviel Druck und Polarisierung verstört auch viele, die ihm früher zujubelten.

Die große Frage ist: Kann der siegeswohnte Politiker an die Kommunalwahl 2009, bei der die AKP mit landesweit 38,9 Prozent stärkste Kraft wurde, anknüpfen? Falls nicht, bekommt Erdoğan ein Problem.

Foto: Erdoğan und Istanbuls Oberbürgermeister Kadir Topbaş im Wahlkampf: „Die Nation ist bedroht“

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