© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/14 / 28. März 2014

Ungeliebte Minderheit
Krim: Seit Jahren kämpfen die Krimtataren um ihre Rechte, nun droht ihnen weiteres Ungemach
Marc Zöllner

Siebzehn Kinder waren die ersten, die ihr Land verlassen mußten. Noch einmal genossen sie ihr Abendbrot im Kreis von Landsleuten in der kleinen Grenzstadt Schegini im äußersten Westen der Ukraine. Die Händler des Ortes bereiteten ihnen und ihren vier Familien die Betten für die letzte Nacht auf heimatlichem Boden. Dann war es entschieden: Die polnischen Behörden gaben grünes Licht für die Einreise der insgesamt 32 Asylsuchenden Krimtataren ins EU-Gebiet.

„Ihre Anfrage begründeten sie mit der derzeitigen Situation auf der Krim“, berichtet eine Sprecherin des polnischen Grenzschutzes der Nachrichtenagentur AFP. „Bis diese Angelegenheit bearbeitet ist, finden sie Unterkunft in einem der Flüchtlingsheime.“ Daß Polen den Asylantrag positiv bescheiden wird, steht dabei kaum in Zweifel. Mit den Lipka-Tataren besitzt das Land selbst eine nennenswerte moslemisch-tatarische Minderheit. Rund 15.000 von ihnen siedeln seit dem 14. Jahrhundert im heutigen polnisch-litauischen Grenzgebiet sowie im benachbarten Weißrußland.

Moskau winkt mit Zuckerbrot und Peitsche

„Wir, die polnischen Tataren und Moslems, unterstützen das unveräußerliche Recht der Krimtataren auf ein würdiges Leben in ihrem Heimatland“, ließ die Moslemische Religionsvereinigung Polens verlauten: „Ebenso erklären wir unseren Widerstand gegen die imperialistische Politik Rußlands, die sowohl die Menschenrechte als auch das internationale Recht verletzt.“

Daß die Augen Polens sowie der westlichen Presse in der Krimfrage gerade auf den Tataren ruhen, hat Gründe. Schon einmal wurde das Turkvolk, das seit dem 15. Jahrhundert auf der geschichtsträchtigen Halbinsel am Schwarzen Meer siedelte, als Spielball zwischen den Großmächten fast zerrieben. Vom Hochmittelalter an bis in die frühe Neuzeit stellte das tatarische Khanat, das zeitweise das Gebiet der Ukraine umfaßte, einen der wichtigsten Spieler im machtpolitischen Gefüge Osteuropas dar. Die Tataren galten als wohlhabend und profitierten insbesondere vom Sklavenhandel mit dem Osmanischen Reich, ihrem wichtigsten Bündnispartner.

Mit dem Verlust ihrer Eigenständigkeit nach der Niederlage Istanbuls im Russisch-Türkischen Krieg 1774 sowie der anschließenden ersten Vertreibung Zehntausender nach Kleinasien folgte jedoch der wirtschaftliche Niedergang der Krimtataren. Ackerbau und Viehzucht dominierten nun ihr wirtschaftliches Dasein. Im Zuge der Zwangskollektivierung der Bauernhöfe unter Stalin verloren sie auch dieses letzte Standbein. Wer in der Hungerkatastrophe des Holodomor, die allein in der Ukraine über dreieinhalb Millionen Menschenopfer forderte, nicht sein Leben verlor, verdingte sich fortan als Tagelöhner.

Rund 20.000 Tataren, rund zehn Prozent der damaligen Bevölkerung, ließen sich daraufhin nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Ukraine von dieser für lokale Selbstschutzeinheiten rekrutieren. Die offene Kollaboration seitens der Mehrheit der Muslime auf der Krim führte im Mai 1944, kurz nach der Rückeroberung der Halbinsel durch die Rote Armee, zur zweiten Deportationswelle. Innerhalb von nur zwei Tagen wurden fast 190.000 Angehörige des indigenen Volks aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben und in vollkommen überladenen Zugwaggons nach Sibirien verbannt. Beinahe die Hälfte der tatarischen Minderheit sollte diesen Todesmarsch nicht überleben.

Zwar wurden die Tataren der Krim bereits 1967 rehabilitiert. Ihre Heimat durften sie jedoch bis 1988 nicht neu besiedeln. Erst mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums folgten große Repatriationsbewegungen. Neben Usbekistan, wo heute noch schätzungsweise 150.000 Tataren leben, etablierte sich die Krim seit Anfang des Jahrtausends zum bedeutendsten Siedlungsgebiet tatarischer Kultur. Einer Langzeitumfrage des International Republican Institute IRI zufolge bekannten sich 2011 noch acht Prozent zur krimtatarischen Nationalität. Zwei Jahr später, im Mai 2013, waren es bereits 15 Prozent. Aufgrund der Zuwanderung sowie hoher Geburtenraten stellen die Krimtataren somit die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe der Halbinsel dar.

Doch die Rückkehr der moslemischen Minderheit läßt auch tief verwurzelte ethnische Gräben wieder aufbrechen. Insbesondere die wirtschaftliche Benachteiligung der Heimkehrer macht sich bemerkbar. Seit 1991 investierte der ukrainische Staat gerade einmal umgerechnet rund 250 Millionen Euro in die Wiederansiedlung der ehemals vertriebenen Minderheiten der Tataren, Armenier, Bulgaren, Deutschen und Griechen. Von den 280.000 Zuwanderern leben noch immer rund 75.000 in Übergangsunterkünften. Weitere 15.000 siedeln wild auf Ländereien, die dem Staat gehören. Gerade sie treffen die ersten Maßnahmen der neuen Krimregierung hart.

„Wir haben die Krimtataren gebeten, einen Teil ihres Landes zu verlassen“, verkündete der neue stellvertretende Ministerpräsident der Krim, Rustam Temirgalijew, vergangene Woche. Zwar wolle er dafür Sorge tragen, daß deren Landverlust andernorts kompensiert würde. Wo sich die neuen Siedlungsgebiete für die Enteigneten jedoch befänden, und wann sie diese überhaupt zugesprochen bekämen, ließ Temirgalijew offen.

Die Ankündigung der Übergangsregierung weckt bei den Tataren alte Ängste. Hinzu kommen Übergriffe russischer Milizen auf Angehörige der Minderheit wie den Tatarenaktivisten Resat Ahmetov. Der 39jährige Bauarbeiter war am 3. März während einer Kundgebung von prorussischen Milizionären abgeführt worden. Zwei Wochen später fand man seine gefolterte Leiche in einem Straßengraben.

Seither ermutigt der Oberste Rat der Krimtataren seine Mitglieder zur Bildung von Milizen. Bürgerwehren sollen die tatarischen Viertel, Moscheen und Geschäfte sichern. Bereits im Vorfeld der Krimkrise kam es immer wieder zu Anschlägen auf moslemische Einrichtungen. Zuletzt im Oktober 2013, als Extremisten binnen zweier Tage die Moscheen von Ronvnoe und Saki niederbrannten.

Seit dem ersten Auftauchen unbekannter Milizionäre auf der Krim patrouillieren nun Freiwillige vor Gebetshäusern wie der 400 Jahre alten Juma-Jemi-Moschee von Yevpatoria. „Wir hofften eigentlich, von diesem Haß, den wir andernorts sehen, hier verschont zu bleiben“, erzählt ihr Muezzin Islam Abdulrashid. „Wir arbeiten sehr eng mit anderen Religionen zusammen und haben sogar ein Forum eröffnet. Plötzlich sehen wir, daß Gewehre ausgeteilt werden. Wir sehen Kosaken und sind sehr besorgt.“

Die neue russische Übergangsregierung der Krim versucht, die Tataren zu beruhigen. Ihr Leben würde durch die neuen Entwicklungen nicht berührt, erklären Vertreter. Ebenso wolle man das Tatarische neben dem Russischen und dem Ukrainischen zur dritten Amtssprache erheben – sofern die Tataren mit den neuen Machthabern kooperieren.

Am 5. März unterzeichnete Rustam Minnikhanov, der Präsident der autonomen russischen Republik Tatarstan, überdies ein Abkommen über wirtschaftliche und humanitäre Zusammenarbeit mit dem neuen Parlament der Krim.

Ankara pocht halbherzig auf seine Schutzmachtfunktion

Minnikhanov unterstrich dabei die Gemeinsamkeiten der Krimtataren mit dem Sechs-Millionen-Brudervolk der Wolgatataren. Doch selbstlos war seine diplomatische Geste keineswegs: Bereits 2015 verliert Tatarstan auf Moskaus Order einen Großteil seiner Autonomierechte. Präsident Minnikhanov darf sich dann auch nicht mehr Präsident nennen. In den Krimtataren hofft er nun, Mitstreiter für seine Politik weg von Moskau zu finden.

Als Schutzmacht des „Brudervolks“ der Krimtataren geriert sich auch die Türkei (JF 11/14). „Wir sind das einzige Land, welches mit Rußland und der Ukraine gleichzeitig benachbart ist“, erklärte Ankaras Außenminister Ahmet Davutoğlu jüngst in einer Pressestunde. „Daß wir uns von der Krim-Krise betroffener fühlen als andere Staaten, liegt in der Natur der Sache. Unsere Haltung, Frieden durch Diplomatie zu unterstützen, ebenso.“ Doch bislang fehlt dem Land ein Fahrplan zur politischen Vorgehensweise. Zwar erkennt auch die Türkei das Krim-Referendum nicht an und pocht weiterhin auf die territoriale Integrität der Ukraine.

Um seine guten Beziehungen mit Moskau nicht zu riskieren, schließt Premierminister Erdogan sich jedoch nur halbherzig den Sanktionen der westlichen Staatengemeinschaft an. Auch Drohungen wie die Schließung der Meerenge von Bosporus für russische Schiffe im Falle ethnisch motivierter Gewalt gegen die Tataren sind nicht mehr als nur gutgemeinte Gesten.

Fraglich bleibt den Krimtataren, wie es für sie weitergehen soll. Eine Zukunft als Bürger Rußlands, die sie vor wenigen Jahren erst nach langer Zeit der Deportation wieder verlassen durften, ist für die meisten undenkbar. Ein Leben auf der Krim nun jedoch ebenso. Während der Oberste Rat der Krimtataren noch seine Optionen abwägt, bereitet man sich in Polen, Lemberg und Kiew bereits auf einen erneuten Ansturm vor. Allein vergangenes Wochenende hätten rund 1.700 Angehörige, zumeist Frauen und Kinder, die Halbinsel verlassen, berichten ukrainische Grenzkontrollstellen. Über 50.000 weitere Flüchtlinge werden allein für nächsten Monat erwartet.

„Seit Wochen schüchtern maskierte, bewaffnete Männer, die sich zu identifizieren weigern, die Bevölkerung ein“, bestätigt auch die Human-Rights- Watch-Direktorin für Europa und Zentralasien, Rachel Denber. Spätestens seit dem Mord an Reshat Ametov lädt die Spirale der Gewalt die Tataren nicht mehr zum Bleiben ein. Die Tausend-Kilometer-Reise nach Polen erscheint immer mehr Familien als bessere Alternative.

Foto: Beerdigung des Krimtataren Resat Ahmetov: Der Leichnam des Bauarbeiters wurde kurz nach dessen Verhaftung durch prorussische Milizionäre im Straßengraben aufgefunden

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