© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/14 / 28. März 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Was genau die Äußerungen der Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff so skandalträchtig macht, bleibt undeutlich. Sicher ist die Rede von Retortenkindern als „Halbwesen“ ein Fehlgriff (was wäre denn die andere Hälfte, wenn die eine offenbar menschlich ist?), aber man muß ihr zubilligen, daß sie die Problematik künstlicher Befruchtung und pränataler Diagnostik mit guten Gründen anspricht. „Embryopathisch“ ist genauso ein Euphemismus wie „eugenisch“, die Behauptung einer irgendwie definierbaren „Wohlgeborenheit“ wirkt sogar ehrlicher als die, man treibe das Kind ab, um ihm Leid zu ersparen. Aber das darf man in einer Gesellschaft nicht laut sagen, die ihre Lebenslügen eifrig pflegt und ihre moralische Überlegenheit immer nur aus dem Unterschied zum Tun der braunen Vorfahren ableitet.

„Der, der uns unsre Natur gab, die nach Vervollkommnung strebt, gab uns auch die notwendigen Mittel dazu. Daher wollte er den Staat.“ (Edmund Burke)

Der Spiegel hat einen Essay von Dirk Kurbjuweit abgedruckt. Es geht um die deutsche Schuld. Das Ergebnis knapp zusammenfassend, könnte man sagen, sie erscheint sehr reduziert: Wir waren nicht am Ersten Weltkrieg schuld und nur bedingt am Zweiten, wir waren als Kollektiv nicht schuld an Auschwitz, und gegen Ernst Noltes These vom „kausalen Nexus“ zwischen Gulag und KZ ist wenig zu sagen, dagegen eine Menge gegen das dünne, wenngleich erfolgreiche Gerede von Habermas, Wehler und Co., und in jedem Fall war Stalin schuldiger als Hitler. Kurbjuweit wird diese Wiedergabe seiner Argumentation nicht freuen.

Der alte Wagenbach feiert den fünfzigsten Geburtstag seines Verlags, und überall Wohlwollen, Lob und Schulterklopfen. Man wäre geneigter, es ihm zu gönnen, wenn man nicht nach wie vor den Eindruck eines Wirrkopfes hätte. Es überzeugt nicht, das eigene Plädoyer für „Anarchie“ und „Hedonismus“ abzutun als Reflex auf spießige Zeiten, die mit den heutigen nichts zu tun haben, und gleichzeitig zu bejammern, daß nunmehr „Anarchie“ und „Hedonismus“ zu üblen Mißständen führen? Ein gut Teil dessen, worüber Wagenbach klagt, ist nur darauf zurückzuführen, daß er und seinesgleichen einstmals Gehör oder jedenfalls keinen Widerstand gefunden haben und eifrig daran mitwirkten, die gegenwärtigen Verhältnisse zu schaffen.

Wenn es für die Ukrainer hart auf hart kommt, werden sie sich des oft verfemten Vorkämpfers ihrer Unabhängigkeit, Stepan Bandera, erinnern: „Die Macht kommt aus den Läufen der Gewehre.“

Bildungsbericht in loser Folge LIII: Es war lange nichts zu hören vom Pisa-Musterland Finnland, wahrscheinlich weil sich herumspricht, daß die Leistungen und die Rundumbetreuung der Schüler das eine sind, die gesellschaftliche Realität der jungen Generation etwas anderes. 20 Prozent des Nachwuchses finden keine Arbeit, Alkoholismus ist ein verbreitetes Problem, die Selbstmordrate liegt mit 22,9 auf 100.000 Einwohner in der Altersgruppe zwischen 15 und 29 fast dreimal so hoch wie in Deutschland. Man macht den rasanten Modernisierungsprozeß des Landes dafür verantwortlich, auch die Labilität der familiären Strukturen oder die Krise des High-Tech-Bereichs der Wirtschaft, aber wahrscheinlich ist es einfach so, daß die totale Schule nicht auf das Leben vorbereitet.

Man kann an den beiden Krisenherden, die im Moment unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen – der Ukraine und Israel/Palästina – beobachten, welche Bedeutung der Faktor „Volk“ wieder gewinnt. Denn neben ideologischen und religiösen, wirtschaftlichen und geopolitischen Größen ist es doch in erster Linie die Menge an Schwierigkeiten, die sich aus Landnahme, demographischem Wachstum und demographischem Verfall sowie Irredenta-Vorstellungen ergibt, die die Lage so brisant macht.

Einzelschicksal: „Dringend! Alte Oxfam-Tüte verloren! Inhalt Fotokopien – mongolische Texte! Belohnung!“

Überraschende Aktualität: Phase 1: Durch massenhafte Einwanderung aus Staat A wird die Zusammensetzung der Population in einem Territorium des Nachbarstaates B verändert; Phase 2: Die Einwanderer stellen ab einem bestimmten Zeitpunkt die neue Mehrheit; Phase 3: Sie nehmen ein Separationsrecht für das Territorium in Anspruch; Phase 4: Staat B weist das zurück, trotzdem wird ein Plebiszit durchgeführt; Phase 5: Aufgrund des Abstimmungsergebnisses kommt es zur formellen Unabhängigkeitserklärung des Territoriums; Phase 6: Das Territorium verlangt den Anschluß an Staat A; Phase 7: Staat B erkennt die neuen Fakten nicht an; Phase 8: Staat A erzwingt die Anerkennung mit militärischen Mitteln. Staat A = USA, Staat B = Mexiko; Territorium = Texas; Zeitraum: 1836–1848.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 11. April in der JF-Ausgabe 16/14.

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